Windhauch und Wein. Georg Schwikart. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Georg Schwikart
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783429065386
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wieder aufzunehmen oder die Ehe mit seiner neuen Liebe einzugehen.

      Storys dieser Art erzähle ich ohne Schadenfreude, sondern mit großem Bedauern für Elmar und für seine Kirche. Die bringt sich aufgrund ihrer speziellen Rechtsauffassung um gute Leute, die sie den Gläubigen vorenthält. Wie Elmar berichten mir auch andere Amts- und Funktionsträger tief bedrückt vom Leiden an ihrer Institution. Ihre detaillierte Kenntnis der Realität steigert ihre Enttäuschung. Sie sehen Stagnation, ja Rückschritt. Sie nehmen eine Verweigerung der Wirklichkeit wahr, ein Versagen aufrichtiger Kommunikation. Es liegt dann (ausgerechnet) an mir, sie zu trösten und zu ermutigen durchzuhalten.

      Der Katholizismus verdient eine differenzierte Betrachtung. Unter dem Begriff „Katholische Kirche“ wird ein buntes Sammelsurium an Kirchen und Gemeinschaften, Theologien und Liturgien, Kulturen und Philosophien zusammengefasst. Diese Buntheit hat etwas Faszinierendes. Damit dieses hochkomplexe Gebilde irgendwie zusammengehalten wird, drängt die Kirchenleitung auf die Einhaltung bestimmter Regeln, die dem Kirchenvolk oft genug abstrus vorkommen.

      Mancher Katholik gibt sich deswegen der Novemberstimmung hin, sieht alles nur noch düster und nebelig. November kann melancholisch machen, sogar depressiv. Dass ab und zu die Sonne durchbricht, erreicht das Gemüt vieler Kirchenmitglieder nicht mehr.

      Ich darf anders auf diese Kirche blicken, entspannter. Ich erwarte weniger und empfange daher mehr. So schätze ich mich glücklich, mit einem Priester befreundet zu sein, der in Rom als Professor der Theologie an der päpstlichen Universität wirkt. Als wir uns zuletzt an einem Samstag im November in einer Bar trafen, fragte er unvermittelt: „Magst du morgen bei mir predigen?“ Ich sagte zu. Am nächsten Tag stand ich in der Albe neben ihm, er stellte mich als seinen evangelischen Freund vor und übersetzte meine Predigt Satz für Satz.

      Beim Friedensgruß beseelten mich die fast zärtlichen Berührungen der Menschen, die hier Gottesdienst feierten, inklusive einiger Ordensschwestern. Ihr Lächeln und ihre Worte ließen erkennen: Uns trennt nichts! Mit absoluter Selbstverständlichkeit empfing ich die Kommunion in den Gestalten von Brot und Wein. In Köln wäre das nicht möglich gewesen. Geschichten dieser Art könnte ich viele erzählen.

      Die katholische Kirche verstehen wollen? „Auch diese Mühe ist so sinnlos wie der Versuch, den Wind einzufangen“, würde Kohelet entgegnen. Albert Einstein hat es handfest ausgedrückt: „Man muss die Welt nicht verstehen, man muss sich nur in ihr zurechtfinden.“ Sich im Katholizismus zurechtzufinden gleicht einer Herausforderung. Die Katholikinnen und Katholiken müssen sie mutig annehmen. Ich möchte sie dabei unterstützen.

      Wir können doch voneinander lernen. Und gemeinsam den Frühling erwarten.

       Der mittlere Weg

      Hennings Vater arbeitete als Professor in Bangkok, so lebte seine Familie ein paar Jahre lang in Thailand. Als er Jugendlicher war, kam sie zurück nach Deutschland. Henning wurde in meiner Bonner Kirchengemeinde konfirmiert und engagierte sich in der Gruppe für behinderte Menschen. Nach dem Studium zog es ihn zurück in den Fernen Osten. Er wandte sich der Lehre des Buddha zu, wurde Mönch und sogar Abt eines Klosters in der thailändischen Provinz Ubon, weitab von den Touristenmagneten.

      Henning heißt als Mönch Kevali: „der das Absolute erreicht hat“. Das weist Kevali bescheiden von sich. Denn ein Mönch ist immer unterwegs. Zwar wächst die Erkenntnis, aber die Disziplin fordert ihn täglich.

      Ein Buddhist folgt dem Weg des Buddha. „Buddha“ ist ein Ehrentitel und bedeutet etwa „der Erwachte“. Zuvor war sein Name Siddharta Gautama. Er lebte um 500 vor Christus in Indien als Prinz eines kleinen Königreiches. Was wir von ihm wissen, ist von Legenden überwuchert. Doch all die schönen Geschichten haben die Funktion, seine wundersame Lebenswende noch dramatischer erscheinen zu lassen.

      Demnach standen Siddharta Gautama drei Paläste zur Verfügung, für den Sommer, für den Winter und für die Regenzeit dazwischen. Dort unterhielten ihn Tänzerinnen und Musiker. Er war verheiratet und Vater eines Sohnes. An Vergnügungen mangelte es ihm nicht. Doch er fand im Luxus keine Erfüllung. So machte er heimlich vier Ausfahrten mit der Kutsche. Am ersten Tag sah er einen Kranken und kam erschrocken heim: Krankheit würde auch ihm nicht erspart bleiben. Am zweiten Tag fiel ihm ein Alter auf; ihn würde das gleiche Schicksal treffen, alt zu werden. Bei der dritten Ausfahrt wurde er mit einem Toten konfrontiert, den man gerade zum Verbrennungsplatz brachte; das gleiche Ende erwartete ihn. Bei der vierten Ausfahrt entdeckte er einen Mönch. Dieser ließ sich von der belastenden Wirklichkeit nicht beeindrucken. So wollte er auch werden!

      Siddharta Gautama verließ seine Familie und die Paläste, zog vom „Haus in die Hauslosigkeit“ und suchte die Wahrheit zu ergründen. Er fastete sich beinahe zu Tode, doch die Weisheit stellte sich nicht ein. Als er sein Vorhaben aufgeben wollte, setzte er sich enttäuscht unter einen Baum – und wurde „erleuchtet“: Was man unbedingt will, bekommt man nicht. Wer loslassen kann, erhält. Er „erwachte“. Das machte ihn zum Buddha. Er begründete den „mittleren Weg“, zwischen absoluter Entsagung und einem Leben ohne jegliche Einschränkung.

      Ich sagte mir: „Dann schaffe ich mir ein angenehmes Leben und genieße das Gute.“ Doch ich erkannte, dass auch darin kein Sinn liegt. „Es ist unsinnig zu lachen“, sagte ich mir. „Was für einen Nutzen hat es, sich zu freuen?“ In meinem Herzen nahm ich mir vor, mich mit Wein zu berauschen, aber so, dass ich noch besonnen über die Weisheit nachdenken könnte. Ich wollte so leben wie die Dummen, um herauszufinden, welche Lebensart für die Menschen während ihrer Zeit hier auf der Erde am besten sei. Ich vollbrachte Großartiges: Ich baute mir Häuser und pflanzte Weinberge. Ich legte Gärten und Parks an und ließ alle Sorten Obstbäume setzen. Ich sammelte das Wasser in Teichen, um damit meine vielen Bäume zu bewässern. Ich kaufte Sklaven und Sklavinnen, und weitere Sklaven wurden in meinem Haus geboren. Ich besaß größere Schaf- und Viehherden als irgendjemand vor mir in Jerusalem. Ich häufte Gold und Silber in meiner Schatzkammer an, die Schätze vieler Könige und Provinzen. Ich holte Sänger und Sängerinnen an meinen Hof und nahm mir viele Frauen – das Höchste, was sich ein Mann nur wünschen kann! Auf diese Weise wurde ich berühmter und reicher als alle Könige, die vor mir in Jerusalem geherrscht hatten. Neben all dem besaß ich meine Weisheit. Wenn mir etwas ins Auge stach, was ich haben wollte, nahm ich es mir. Ich versagte mir keine einzige Freude. Und ich freute mich bei all den Mühen, die ich hatte – das war gleichsam ein Nebenlohn meiner Anstrengungen. Doch als ich alles prüfend betrachtete, was ich mir mit meinen Händen erworben hatte, und die Mühe dagegenhielt, die ich darauf verwendet hatte, merkte ich, dass alles sinnlos war. Es war so unnütz wie der Versuch, den Wind einzufangen. Es gibt keinen bleibenden Gewinn auf dieser Welt. (Prediger 2,1–11)

      Kohelet wird wohl nie etwas von Buddha gehört haben, aber die Parallelen in der Erkenntnis der beiden sind offensichtlich. Doch ist die weise Einsicht kompatibel mit unserer Wirklichkeit? „Haste was, biste was“, warb früher eine Bank im Fernsehen, und die Girlgroup Tic Tac Toe sang folgerichtig: „Haste was, biste was! Haste nichts, biste nichts!“ Das scheint dem menschlichen Naturell zu entsprechen, sich über das Haben zu definieren. Haben oder Sein, formuliert Erich Fromm.

      Bei einem Besuch in Kevalis Kloster durfte ich mich von der Ernsthaftigkeit des buddhistischen Weges überzeugen. Wie die Mönche stand ich morgens um drei Uhr auf, denn dann sind die Temperaturen noch erträglich. Um halb vier ist „chanting“; eine halbe Stunde lang rezitieren die Mönche heilige Verse, dann wird eine Stunde still meditiert. Um sechs Uhr beginnt der Almosengang durch die nahegelegenen Dörfer. Die Bewohner spenden täglich Lebensmittel: Reis, Obst, Süßigkeiten, Getränke und andere Sachen. Auch Geld, aber das darf ein Mönch nicht annehmen, das kann nur im Tempel in einen Opferstock gegeben werden. Um acht Uhr gibt es die einzige Mahlzeit am Tag. (Am Nachmittag wird Tee oder Saft gereicht.) Im Tagesverlauf folgen Belehrung, Arbeit, Ruhephasen und am Abend noch einmal Rezitation und Meditation.

      Über allem liegen ein großer Frieden, heilige Ernsthaftigkeit und heitere Gelassenheit. Bei Ausflügen in weitere Klöster wurde mir die Ehre zuteil, andere Äbte kennenzulernen. Sie leben ein so anderes Leben als ich, und doch verstanden wir uns als Menschen wunderbar. Einmal erzählte ich einen alten Witz: