Das Fernsehen faszinierte mich ganz intuitiv, aber es brauchte nicht viel, und ich lernte, auch feststehende Bilder zu verehren.
Das allererste, was mich packte, war das Cover einer LP.
Es war ein Foto von Olivia Newton-John, mit vor der Brust verschränkten Armen, auf ihrem Album If You Love Me, Let Me Know. Das war meine erste Platte, ein Geschenk meiner Großmutter, die das Bild wohl unbedenklich fand, mit den Bäumen im Hintergrund und dieser brav daherkommenden, weitgehend ungeschminkten blonden Puppe im Jeanshemd.
Ich war sieben Jahre alt.
Ich habe Olivia sofort geliebt.
Es kam mir vor, als schenkte sie mir ein strahlendes Lächeln. Erst viel später wurde mir klar, dass sie gar nicht lächelte, jedenfalls nicht auf diesem Foto, alles lief über die Intensität ihres Blicks, der unverwandt auf mich gerichtet war. Ich weiß nicht, warum ich den Eindruck hatte, ihr Gesicht würde wirklich leuchten. Oder warum ich anfing, zwanghaft Fotos von ihr zu sammeln, Hunderte, aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnitten oder ausgerissen, und das fast zehn Jahre lang.
Meine Mutter hat nie begriffen, warum ich lieber Fotos von Olivia sammeln als mit meiner Barbie spielen oder draußen mit den Nachbarsmädchen Seilspringen wollte, die ich auch zu uns ins Planschbecken hätte einladen können. Sie begriff auch nicht, warum ich keine Lust auf das Riesending hatte, das unseren Garten praktisch ausfüllte und das ich immer schon nach drei oder vier Minuten mit brennenden Augen verlassen musste, weil das Wasser dermaßen gechlort war.
Ich weiß nicht, wie ich das Sammeln gelernt habe; ich weiß nicht mal, ob ich es bewusst lernte. Ich wollte so viel Zeit wie möglich mit Olivia verbringen und ihr dort begegnen, wo sie war, in der Welt der Bilder. Auf meinen Lieblingsfotos strahlte Olivia eine unerhörte Lebensfreude aus. Diese faszinierende Hingerissenheit war mir völlig neu. Alles an ihr schien zu leuchten. Ihre Schönheit, ihre Stimme, ihre Energie auf dem Bildschirm. Auf jedem ihrer Bilder konnte ich etwas mehr von ihrer Herrlichkeit entdecken. Um ihr wirklich zu begegnen, musste ich also an sämtliche Bilder von ihr herankommen.
Olivia war das Idol der Idole meiner Kindheit, mit ihrem absoluten Lächeln auf den Plattencovers und den Postern überall in meinem Zimmer. Sie war allgegenwärtig, mit neuen Filmen, neuen Platten, neuen Videos oder Fernsehshows. Jede Woche erschienen Fotos von ihr im Magazine illustré oder den anderen Zeitschriften, in denen ich im Supermarkt blättern konnte. Mit einer unauffälligen Technik schaffte ich es, die begehrten Seiten verstohlen herauszureißen und meiner Sammlung hinzuzufügen. Natürlich wusste ich, dass ich keine Seiten aus Zeitschriften herausreißen durfte und dass ich Gefahr lief, erwischt zu werden, aber ich konnte einfach nicht wieder gehen ohne mein kleines Stückchen Olivia.
Damals hatte ich noch keine Ahnung vom Talent der Fotografen. Oder von den Möglichkeiten der Bildkomposition. Ich merkte aber schon, dass unsere Erinnerungsfotos von Reisen oder von Weihnachten nichts mit Olivias Plattencovers zu tun hatten. Da sah ich immer traurig und missgestalt aus, meine Mutter genauso. Verschwommen. Und vielleicht dachte ich, dass das eine das andere erklärte, dass unsere Hässlichkeit auf den Fotos, die mein Vater machte, sich mit der außergewöhnlichen Schönheit Olivias auf ihren Werbefotos vergleichen ließe. Ihr unglaubliches Lächeln zeigte einfach, wie viel lebendiger sie war als wir, dass es ein Anderswo mit lebhafteren Farben gab und vergnügten Menschen, die sich ihres Lebens freuten. Ich musste eben besser werden, um eines Tages auf unseren Reisefotos auch so auszusehen wie sie. Und deshalb lag es in meinem Interesse, ihre Kunst des Großartigseins zu studieren.
Ich wusste nicht, was es bedeutete, ein Vorbild zu haben. Aber ich weiß, dass ich unbedingt wie Olivia sein wollte. Und das hatte nichts mit ihren perfekten Zähnen oder ihren blauen Augen zu tun. Derlei Details von Textur oder Form nahm ich gar nicht wahr. Was ich wollte, war diese selbstsichere Körperhaltung, dieser Blick geradeaus; ich wollte so strahlend werden, dass egal welche Aufnahme von egal wem nichts anderes hätte zeigen können als diese Vollkommenheit des Daseins.
Das hätte ich meiner Mutter nie erklären können, aber wenn ich meine Sammlung der still lächelnden Olivia ansah, fühlte ich mich sicher. Vaters Wut und Mutters Verzweiflung waren egal, Olivia war und blieb strahlend.
Meine Mutter war ernsthaft irritiert von meiner Verehrung für Olivia. Vielleicht spürte sie meinen Hang zum Mystischen und fühlte sich an ihre Jugend bei den katholischen Nonnen erinnert, daran, wie stur sie darauf beharrten, etwas zu verehren, das für meine Mutter nicht existierte; etwas, das ihnen das Recht gab, ihr mit einem Stock auf die Hände zu schlagen und sie verächtlich, von oben herab zu behandeln. Etwas, das sie jeden Morgen auswendig in der Kirche wiederholen musste, ohne ein Wort zu begreifen, ohne irgendein Gefühl außer Langeweile und dauerhaftem Druck.
Meine Mutter pflegte zu sagen, noch schlimmer als die Religion sei die neumodische Verehrung der Fernseh-Flittchen. In der ersten Zeit war das Olivias Spitzname. Nach Grease. Ich habe bestimmt eine Woche damit verbracht, die Abschlusschoreografie des Films nachzustellen, wo Sandy sich ein komplett neues Image zulegt und zur hysterisch bejubelten Femme fatale wird. Diese Szene war fast zu viel für mich, so erregend fand ich, dass der neue Look meinem Idol ungeahnte Kräfte verlieh – genau wie sich Wonder Woman einmal um sich selbst drehte, die falsche Identität einer normalen Frau abwarf und ihre wahre Natur enthüllte. Oder wie Jeannie, die wusste, mit welchen Kleidern sie ihre Zauberkräfte verbergen und nach einer unauffälligen Frau ihrer Zeit aussehen konnte; doch nur ein Blinzeln, und auch sie erlangte ihre zeitlose, machtvolle Ausstrahlung wieder. Dieser spektakuläre Imagewechsel war für mich eine Wiedergeburt, nichts Geringeres. Eine wundersame Erscheinung, wie Jesus während der Verklärung.
Damals begriff ich noch nicht, dass Sandys Verwandlung in Grease etwas mit Erotik zu tun hatte, dass die Stöckel, der Lippenstift, die Zigarette und die Locken ihre Art waren, das Image der Unschuld und Jungfräulichkeit zu brechen und an dessen Stelle ein bad girl aufzubauen. Ich sah nur Olivia, radikal anders und weiterhin großartig, berauschend schön. In mir wurde keine sinnliche Saite angeschlagen, von den sexuellen Spielchen verstand ich nichts. Da war nur reine Liebe. Wahrscheinlich habe ich bei der mythischen Szene geklatscht oder aufgeschrien, ich weiß es nicht mehr. Ich weiß aber noch, dass meine Mutter, die neben mir saß, meine Reaktion beunruhigend fand. Als die zierliche Olivia anfing, sich in ihrer hautengen schwarzen Hose hin und her zu wiegen, sagte meine Mutter entnervt: Die hat sich doch unters Messer gelegt, die Frau, kein natürlicher Körper sieht so aus. Das fand wiederum ich beunruhigend. Von Schönheitschirurgie wusste ich noch nichts, und mich überfiel die grässliche Vorstellung, dass die Linie einer Figur mit dem Fleischmesser gezogen wird, am Körper entlang. Meine Mutter wollte mir beibringen, dass ihre Schönheit ein Resultat der Schminke war, dass ihre Stimme von Tontechnikern im Studio zurechtgeschustert wurde. Dass hinter ihrem Erfolg eine ganze Maschinerie stand. Dass das nicht einfach so von alleine ging. Dass das, was ich für Schönheit hielt, eine Vorspiegelung war. Irreal. Sie wollte unbedingt, dass ich mich wieder einkriegte und begriff, es gab wichtigere Dinge im Leben als arschwackelnde Schlampen. Als ich fragte, was denn wichtig sei, seufzte sie und fand, mir fehle der gute Wille.
Ich bemühte mich, ihr zu erklären, dass ich wirklich wissen wolle, was wichtiger sei, dass ich mir eigentlich nichts anderes wünschte. Ich sah ihr Zögern, manchmal antwortete sie, die Familie sei wichtig. Aber sie hasste ihre eigene Mutter, die jeden Tag bei ihr anrief. Ich hörte, wie sie log, ihre Mutter schnell abfertigte, nichts von unserem wahren Alltag erzählte. Sie redete niemals mit ihrem Vater, ihrer Schwester, ihrem Bruder. Meine Mutter hatte auch keine Freundinnen; sie sagte, das ende immer im Drama, weil allen Leuten nur daran gelegen sei, gut dazustehen und einem dann das Messer in den Rücken zu stoßen. Ich hatte keine Ahnung, was das heißen sollte, aber die angewiderte Grimasse meiner Mutter reichte, und mit dem Thema war Schluss. Um das Haus herum war die Welt genauso widerwärtig. Die Nachbarin zur Linken war ein schizophrenes Ungeheuer, vor dem man sich in Acht nehmen musste. Die Nachbarin zur Rechten, laut meiner Mutter geistig zurückgeblieben, war noch furchterregender.