Später habe ich dann, einigermaßen misstrauisch, versucht, die fiktiven Figuren mit den strahlenden Promis des Star-Systems in Bezug zu setzen. Ich sah ihre Schlösser in den Zeitschriften, ich verfolgte die Preisverleihungen und die Defilees auf dem roten Teppich, ich merkte mir, wer mit wem verlobt war, wer sich gerade hatte scheiden lassen und wer die eingefleischten Singles waren. Was mich zunächst faszinierte, waren aber weder Ruhm noch Reichtum der Promis, sondern vielmehr die fiktiven Figuren, die sie spielten. Diese menschlichen Wesen, die vielleicht einmal in den Vorstädten gewohnt, vielleicht selbst erstarrt vor ihren Fernsehern gesessen hatten wie ich und dann dazu auserwählt wurden, auf dem Bildschirm ewig zu werden. Auf der anderen Seite des warmen Glases zu existieren, auf das ich oft die Hände legte, um meine Idole irgendwie zu berühren – das also war absolutes Prestige.
Und so lautete meine erste berufliche Entscheidung:
Ich wollte eine fiktive Figur werden, mit einem Körper aus Licht auf dem Bildschirm.
†Fanfreluche, Kinderserie im kanadischen Fernsehen von 1968–1971, geschrieben und gespielt von Kim Yaroshevskaya. (A. d. Ü.)
Über das Erstaunen
Letzten Herbst, an einem Montag um die Mittagszeit, bekomme ich einen Anruf von meinem Vater. Kaum hat er meinen Namen gesagt, mit einem zu schrillen Fragezeichen, wird mir klar, es ist ein Notfall. Er will wissen, ob es mir gut geht. Sofort dreht mein Herzschlag durch. Während er spricht, betrachte ich Anouk, erstarrt in ihrer Pose à la Verzückung der Heiligen Theresa. Das Licht streift sacht die Falten der Kutte, die ihren Körper und einen Teil ihres Kopfes verdeckt. Ich lasse den zweiten Scheinwerfer in der Schwebe, den ich zuerst verschieben wollte, um den mystischen Ausdruck ihres Gesichts besser sichtbar zu machen. Ich höre fast nichts. Aber das ist ziemlich egal. Mein Vater weiß nicht, wie er’s sagen soll. Er weint. Er stammelt, dass meine Mutter in der Notaufnahme ist.
Mein letzter Besuch im Haus meiner Eltern ist über zwei Jahrzehnte her, ich hatte seither nie wieder mit meinem Vater gesprochen.
Unsere letzte Auseinandersetzung war kurz. Brutal.
Ich war gerade zu Hause angekommen, stand noch in Mantel und Stiefeln in der Diele, schon unangenehm berührt durch die Wolke Zigarettenrauch, die seit Ewigkeiten im Haus hing. An dem schmierigen Gesichtsausdruck meines Vaters hatte ich gleich erkannt, dass er schon jetzt, vorm Abendessen, betrunken war. Meine Mutter war noch nicht aus ihrem Sessel aufgestanden, um mich zu begrüßen. Und sofort brach der Ausnahmezustand aus.
Eine Woche zuvor hatte die Lokalzeitung ein Porträt von mir gebracht, in dem meine Aktivitäten in Europa und vor allem mein Mitwirken an einem Gruppenfoto vorkamen: ein gemeinsames Aktfoto von lauter Models, als Aktion für den Tierschutz. Wir waren etwa dreißig Frauen vor weißem Hintergrund, weiches Licht, ungeschminkt, allesamt stehend, ohne wirklich zu posieren. Das Foto wirkte nüchtern; mein Vater fühlte sich trotzdem gedemütigt. Dass der Körper seiner Tochter den Augen der Allgemeinheit dargeboten wurde, war ihm zutiefst peinlich. Er sah keinerlei Unterschied zwischen den Pornofotos, die im Hustler standen, und den stilisierten Bildern, bar jeder erotischen Geste, die in den größten Modezeitschriften erschienen. Ich stand nackt in seinem Lokalblatt, und meine überklebten Brustwarzen verschärften die Beleidigung nur. Mein Vater fixierte mich voller Verachtung, während er seine Wut herausschrie, und schließlich zerknüllte er die Zeitung und warf sie mir vor die Füße. In seinem Furor spuckte er sogar auf den Küchenboden und verkündete mit ernster Stimme: Du ekelst mich an. Dann stapfte er schwerfüßig in sein Zimmer. Meine Mutter hatte sich nicht gerührt, nichts erwidert; sie betrachtete die Plastiktischdecke zwischen ihren Händen und kratzte sich den linken Handrücken mit den Fingern der Rechten. Ich war dermaßen baff, dass mir darauf nichts einfiel. Mir fehlte die Kraft, mich zu verteidigen oder irgendetwas zu erklären.
Ich ging wieder.
Mein Vater hatte sich nie entschuldigt; vielleicht hatte er seinen Anfall sofort wieder vergessen, betrunken wie er war. Vielleicht hatte er immer schon gefunden, dass ich seine Verachtung verdiente. Auch meine Mutter erwähnte den Vorfall nie mehr. Zwanzig Jahre lang schwieg ich lieber, wie sie. Schweigen rund um den Vorfall. Oder um meinen Alltag. Oder darüber, was ich zu egal welchem Thema dachte. Ich wurde noch viel oberflächlicher als das kommerziellste Bild in der Werbung.
Am Tag also, als meine Mutter ins Krankenhaus kommt, als ich die Stimme meines Vaters höre, noch bevor mir klar wird, dass es sich um einen Notfall handelt, nehme ich den Faden unserer Beziehung genau da wieder auf, wo wir ihn haben fallen lassen: Ich verstumme, erstarre. Unfähig nachzudenken, zu reagieren. Ich habe Angst vor ihm. Angst vor allem, was er sagen könnte.
Und doch sperre ich die Ohren auf und höre zu.
Nach dem Anruf meines Vaters brauche ich einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen. Ich befreie Anouk aus ihrer entrückten Pose und nehme ihr das Gewand weg, ohne mein Bild zu vollenden. Nackt steht sie da, tritt unbefangen von einem Bein aufs andere, Mund offen, die Augen noch geschlossen. Ihre Haut, von marmornem Schimmer überzogen, ähnelt jetzt der eines Engels auf einem Grabmal. Ich bin dermaßen durcheinander, dass ich es nicht schaffe, ihr Gesicht zu resetten und so ihren klaren Blick wiederherzustellen.
Oft habe ich gedacht, dass ich einmal so sterben werde, schlagartig, abrupt stoppt ein Angstschub das normale Funktionieren all meiner Organe. Heutzutage gibt es präzise Begriffe dafür. Generalisierte Angststörung; Panikattacke. Als Kind brach ich auf dem Boden zusammen, die Hände zwischen die Schenkel geklemmt, den Kopf an den Knien. Und stets das Gefühl, gleich müsste die Katastrophe kommen.
Damals wusste ich noch nichts von Klimawandel, Terrorismus, beschleunigtem Rückgang der Artenvielfalt oder Nachhaltigkeit und Ressourcenverbrauch. Außerirdische wurden noch nicht diskutiert – und wie sinnvoll oder gefährlich es sei, auf unsere Anwesenheit im Universum aufmerksam zu machen; damals war die Wissenschaft sich einig: UFOs waren Halluzinationen von Hippie-Spinnern, die in dem Jahrzehnt nach Woodstock zu viel LSD genommen hatten. Ich wusste auch nichts von unheilbaren Krankheiten; von Krebs sollte ich zum ersten Mal kurz vor der Pubertät hören, halblaut, wenn es um den Tod meiner Tante Marianne ging, die ich kaum gekannt hatte und mit der mein Vater nicht mehr reden wollte, seit sie bei den Zeugen Jehovas war. Er sagte, es sei gefährlich, ihr zu nahe zu kommen, sie könne uns alle verrückt machen. Ich weiß noch, wie ich meine Mutter weinen hörte, man könne sie doch nicht einfach so sterben lassen, ohne sie noch einmal zu besuchen, das mit der Religion sei ein jugendlicher Fehler gewesen, es gebe doch sowieso weder Gott noch Jehova, aber Mariannes Leiden sei echt, sie habe schon alle Haare verloren und die Augenbrauen und würde schon bald endgültig sterben. Da erfuhr ich, dass der Gott von Jesus eine fiktionale Figur war, die erschreckendste von allen, was mir gleich Lust machte, sämtliche Geschichten über ihn zu lesen.
Nach allem, was man damals hörte, ging die wahre Bedrohung eher von den Haien aus, wie im Film Der weiße Hai, den alle im Autokino gesehen hatten und der in ganz Nordamerika für Albträume sorgte, dabei gab es weiße Haie laut meinem Vater nur in Florida. Es war auch viel von Drogen die Rede, von Heroin vor allem, das in Deutschland jugendliche Prostituierte tötete, sich aber in allen Seitengassen des Planeten verbarg, zwischen den Mülltonnen, in unsichtbaren verrosteten Spritzen, auf die alle kleinen Mädchen in meinem Alter unweigerlich treten und an denen sie augenblicklich sterben würden, noch bevor sie das Leben kennengelernt hatten, laut meinem Großvater, der jetzt, nachdem er sich über dreißig Jahre lang das Hirn weggesoffen hatte, zu den Anonymen Alkoholikern ging.
Auch das Ende der Welt, eingeleitet von einer Atomexplosion, fürchtete man - die einzige der weltweiten Bedrohungen, die auch durch die Gipswände unseres Bungalows eingesickert war. Aber mein Vater glaubte nicht daran. Kirche im Dorf lassen, sagte er. Kein Mensch wäre so verrückt, auf den roten Knopf zu drücken, jeder wüsste doch, dass beide Seiten ihren eigenen roten Knopf hätten, auf