»Schick mir einen Vorschlag.«
Ich versprach, dass ich ihm meinen Vorschlag persönlich überbringen würde.
Im Mai traf ich in Athen in Alexis’ großzügigem Büro im Parlamentsgebäude erstmals mit seinem Wirtschaftsteam zusammen. Neben Pappas und Dragasakis, dem Schattenfinanzminister, gehörten ihm noch zwei Syriza-Mitglieder an, die ich kannte und mochte: Euklid Tsakalotos, ein geschätzter Kollege von der Universität Athen, und Giorgos Stathakis, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Kreta. Bei dem Treffen legte ich den Vorschlag vor, um den Alexis gebeten hatte, eine erweiterte Version des Strategiepapiers, das ich im Juni 2012 ausgearbeitet hatte: Eine Fünf-Punkte-Strategie für ein nachhaltiges Griechenland in einer nachhaltigen Eurozone.
Die Stimmung im Raum war begeistert und bestätigte, dass meine früheren Bemühungen, Alexis vom Grexit als Ziel wie als Drohung abzubringen, nicht umsonst gewesen waren. Während ich auf der Linken insgesamt und bei Syriza viele Freunde verloren hatte, die mir meinen Anteil daran, den Grexit aus dem politischen Programm von Syriza zu streichen, nicht vergaben, wollte Alexis’ innerer wirtschaftlicher Beraterkreis offensichtlich unbedingt eine praktikable Lösung innerhalb der Eurozone finden. Mein Paper sollte sie überzeugen, dass das nicht nur wünschenswert war, sondern auch machbar, dass ein Coup wie in Zypern vermieden werden konnte, und ich schlug ihnen einen Weg vor, wie das gelingen konnte. Erst kam die Abschreckung:
1. Die EZB auf Distanz und die Banken offen halten
Ab Ende 2012 schaffte es Mario Draghi, der clevere Präsident der EZB, den bröckelnden Euro zusammenzuhalten, indem er versprach, den strauchelnden europäischen Volkswirtschaften – Italien, Spanien, Irland und dem Rest – Berge von Schulden in Form von Staatsanleihen abzunehmen.33 Draghi sicherte sich zwar grünes Licht von Angela Merkel für seine Pläne, trotzdem war sein größter Feind die deutsche Zentralbank, die Bundesbank, deren Präsident Draghis Recht und Befugnis infrage stellte, ausfallgefährdete griechisch-römische Schulden zu kaufen – tatsächlich war das ein Verstoß gegen die Satzung der EZB, und Draghi musste sich ein paar Tricks einfallen lassen, um sie zu umgehen. Die Bundesbank verklagte Draghi deswegen.34 Sollte Draghis Versprechen sich angesichts dieser beträchtlichen juristischen Herausforderung in Luft auflösen, dann war die einzige Möglichkeit, den Euro weiter am Leben zu erhalten, weg. Die Bundesbank argumentierte, Draghi sei rechtlich nicht befugt, Verluste aus Aufkäufen von Staatsanleihen zu übernehmen. Das gab der griechischen Regierung erheblichen Spielraum, denn in den Büchern der EZB standen noch Tausende Milliarden griechischer Staatsanleihen, die die EZB zwischen 2010 und 2011 unter ihrem vorigen Präsidenten im Rahmen des Securities Markets Programme (SMP) gekauft hatte. Mein Rat an Syriza lautete, wenn die EZB mit der Schließung der griechischen Banken drohen sollte, sollte ihre Regierung einen einseitigen Haircut bei den sogenannten SMP-Anleihen vornehmen. Damit würde sie die Position der Bundesbank in ihrem Kampf gegen Draghis Plan stärken, die Eurozone durch den Ankauf französischer, italienischer, spanischer, irischer und portugiesischer Staatsanleihen zu retten. Diese Absicht sollten sie klar und deutlich ankündigen. Dann würde Draghi mit Sicherheit zögern, mit Griechenland so umzuspringen, wie er mit Zypern umgesprungen war.
2. Die bankrotten Banker unschädlich machen
Wie Pappas, Alexis und ich schon früher diskutiert hatten, bedeutete die Zerschlagung von Bailoutistan 2.0 die Übergabe der Banken an ihre neuen Besitzer, die Steuerzahler Europas, und die Herauslösung ihrer Verluste aus den griechischen Staatsschulden. Eine Syriza-Regierung sollte deshalb mit der Troika darüber verhandeln, die Anteile an den Banken und ihre Leitung auf europäische Institutionen zu übertragen, deren Aufgabe es dann wäre, sie im Namen aller Europäer wieder aufzupäppeln. Dafür musste Syriza die linken Kräfte, die an die Sozialisierung von Banken glauben, mit den Liberalen vereinen, denen der Gedanke missfällt, bankrotte Banker mit Kapital zu unterstützen, das von machtlosen Steuerzahlern stammt.
3. Eine vernünftige Haushaltspolitik und Vorschläge für eine Umschuldung
Syriza sollte laut und deutlich verkünden, ihre Regierung werde dafür sorgen, dass der Staat nicht über seine Verhältnisse lebte, in guten wie in schlechten Zeiten. Technisch bedeutete das, einen kleinen Primärüberschuss anzustreben, nicht mehr als 1,5 Prozent des BIP – nicht genug, um die nicht tragfähigen Staatsschulden zurückzuzahlen, aber genug, um den Staat flüssig zu halten, während der private Sektor eine Chance haben würde, wieder Luft zu holen. Als Vorbedingung dafür musste Syriza eine so umfassende Umschuldung vorschlagen, dass künftig Rückzahlungen mit einem Primärüberschuss von 1,5 Prozent möglich sein würden. Während der Verhandlungen mit der Eurogruppe und ihrer Troika über diesen letzten Punkt musste sich eine Syriza-Regierung darauf einstellen, die höchsten Gehälter und besonders großzügige Renten zu kürzen, um so viel Geld einzusparen, wie nötig wäre, um über die Runden zu kommen.
4. Ein Notfallplan zur Bekämpfung der humanitären Krise
Unterdessen sollte eine Syriza-Regierung unverzüglich Vorkehrungen treffen, die vielen Hunderttausend Familien, die am meisten litten, mit Nahrungsmitteln, Energie und Wohnraum zu versorgen. Lambros und all jene, die wie er vollkommen abzustürzen drohten, sollten bei der Regierung oberste Priorität haben. Die Ausweise sollten kostengünstig durch eine Smartcard mit Zahlungsfunktion ersetzt werden. Die Funktion würde für Familien unterhalb der absoluten Armutsgrenze aktiviert werden, damit sie in Supermärkten damit bezahlen, ihre Stromrechnung und Wohnkosten begleichen konnten.
5. Ein bescheidener Vorschlag, um die Eurozone funktionsfähig zu machen
Als progressive proeuropäische Kraft sollte die Syriza-Regierung nicht nur für die Griechen verhandeln, sondern mit umfassenden Vorschlägen für den Umgang mit Europas Staatsschulden und Banken, für die Investitionspolitik und die Bekämpfung der Armut nach Brüssel gehen – Vorschläge, ohne die die Eurozone nicht nachhaltig ist. Meine Empfehlung an das Wirtschaftsteam von Syriza lautete deshalb, den Bescheidenen Vorschlag zur Lösung der Eurokrise zu übernehmen, an dem Stuart Holland, Jamie Galbraith und ich über Jahre gearbeitet hatten.
Um diese Ziele zu erreichen, sagte ich den Anwesenden, müssten sie mit einem umfassenden Programm nach Brüssel reisen, das nicht nur für Griechenland gut wäre, sondern auch für alle anderen europäischen Länder. Sie müssten ein klares Signal setzen, dass Athen sich nicht länger durch Einschüchterung dazu bringen lassen würde, immer neue Kredite zu akzeptieren. Die Verantwortlichen in der EU und beim IWF müssten begreifen, dass Syriza mit dem Ziel angetreten sei, Griechenland in der Eurozone zu halten und Kompromisse zu finden. Aber ihnen müsste auch klargemacht werden, dass Syriza notfalls bereit wäre, die Verhandlungen zu verlassen, ungeachtet ihrer Drohungen. Wenn sie nicht dazu bereit wären, sei es von vornherein sinnlos, überhaupt in Verhandlungen einzutreten.
Alexis und Pappas wirkten zufrieden. Euklid und Stathakis signalisierten ebenfalls grundsätzliche Zustimmung. Dragasakis stellte die entscheidende Frage: »Wie können wir die Eurogruppe, die EZB und die Troika davon überzeugen, dass wir nicht bluffen?« Die Frage traf tatsächlich ins Schwarze, das war der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Strategie.
Ich erwiderte, Syrizas Wünsche und Prioritäten müssten allgemein bekannt gemacht werden. Alle müssten wissen, dass eine von Syriza geführte Regierung vor allem eine praktikable Vereinbarung innerhalb der Eurozone wolle, aber eher den Grexit akzeptieren werde, ein schreckliches Ergebnis, als eine Kapitulation, das schlimmstmögliche Ergebnis. Wenn diese Reihenfolge der Prioritäten allgemein bekannt wäre, würde die Verantwortung für den Grexit mit all seinen Kosten und den juristischen Problemen, die er nach sich ziehen würde, unweigerlich bei der EU und dem IWF liegen. Es wäre ganz allein ihre Verantwortung, und das würden sie auch wissen.
Aber auch wenn Syrizas wahre Präferenzen bekannt wären, würden die Verantwortlichen von EU und IWF ganz sicher Alexis’ Entschlossenheit