Vor der Wahl hatte ich nur wenig Kontakt zu Alexis und Pappas und immer in großen Abständen. Während die Sozialisten von Papandreous PASOK so taten, als hätten sie mit den Ereignissen nichts zu tun, waren die Hauptprotagonisten nun Samaras’ Nea Dimokratia und Tsipras’ Syriza. Aber ich konnte mir genauso wenig wie sie vorstellen, dass eine Partei, die bei der letzten Wahl nur 4,6 Prozent der Stimmen errungen hatte, eine realistische Chance haben könnte, die Regierung zu bilden, selbst wenn sich die politischen Kräfteverhältnisse massiv änderten.
Mir war es wichtig, dass Syriza den Wählern ein nicht populistisches, logisch kohärentes Grundsatzprogramm mit progressiver und proeuropäischer Stoßrichtung vorlegte. So würde sie das Bild einer glaubwürdigen künftigen Regierung vermitteln, die in der Lage wäre, den Rettungsplan für das Land mit der EU und dem IWF auszuhandeln. Alexis und Pappas neigten einem anderen politischen Programm zu, einem, das (aus meiner Sicht) langfristige Kohärenz kurzfristigen Stimmengewinnen opferte. Der wirtschaftspolitische Teil von Syrizas Wahlprogramm für 2012 missfiel mir so sehr, dass ich nach ein paar Seiten nicht mehr weiterlas. Am nächsten Tag bat mich ein Reporter des griechischen Fernsehens um einen Kommentar zu dem Programm. Ich sagte, ich neigte dazu, Syriza zu unterstützen, aber meine Wahlentscheidung hänge davon ab, ob es mir gelingen würde, der Lektüre ihres Wirtschaftsprogramms zu widerstehen.
Die Wahlen im Mai brachten ein Patt im Parlament. Die politische Mitte, bestehend aus PASOK und Nea Dimokratia, die bisher zusammen über 80 Prozent der Wählerstimmen verfügten, hatten mehr als die Hälfte ihrer Anhänger verloren. Das war der Preis, den die beiden Parteien des Establishments dafür zahlten, dass sie Bailoutistan über uns gebracht hatten.14 Von einem politischen Erdbeben zu sprechen, wäre noch eine Untertreibung. Wie es oft geschieht, wenn Deflation infolge von Schulden dazu führt, dass die politische Mitte wegbricht, erhob der Nationalsozialismus sein hässliches Gesicht in Gestalt der Goldenen Morgenröte, die 7 Prozent der Stimmen bekam und damit zur viertstärkten Partei wurde. Syriza, bisher eine Splitterpartei, hatte ihr Ergebnis vervierfacht und lag nur 2 Prozentpunkt hinter der Nea Dimokratia von Antonis Samaras. Zum ersten Mal seit 1958 erreichte die Linke den Rang einer offiziellen Opposition. Alexis und Pappas hatten Grund, sich bestätigt zu fühlen, und ignorierten meine Kritik am Wirtschaftsprogramm von Syriza.
Aber ein Parlament, in dem die größte Partei weniger als 19 Prozent der Stimmen auf sich vereint hat, bringt keine funktionsfähige Regierung hervor. Die unvermeidliche Auflösung bereitete den Weg für Neuwahlen einen Monat später, im Juni 2012. Es sollte ein interessanter Monat werden. Da es weder eine Regierung noch ein funktionierendes Parlament gab, mussten die EU und der IWF einige atemberaubende Tricks aus dem Ärmel zaubern, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass der griechische Staat weiter seine Schulden bediente. Die beiden einzigen Parteien, die im Wahlkampf Zulauf bekamen, waren Syriza und die Nea Dimokratia, wobei Syriza stärker zulegte, allerdings von einem niedrigeren Niveau aus. Wenn die Trends der vorangegangenen Wochen sich fortsetzten, hatte Alexis gute Chancen, die nächste Regierung zu bilden. Diese Erkenntnis traf die Oligarchie, die Troika, das politische Establishment in Deutschland wie ein Schock und nicht zuletzt auch Alexis und Pappas, die verständlicherweise in Panik gerieten angesichts der Aussicht, dass die grausamen Götter sich womöglich verschwören und ihnen ihren größten Wunsch erfüllen könnten.
Alarm
Ich war zur Stimmabgabe bei der Wahl im Mai nach Athen zurückgekehrt, als Pappas mich anrief, um ein Gespräch zu vereinbaren. Tsipras, er und ich trafen uns wieder in demselben Hotel in Psirri, diesmal ziemlich aufgeregt: Sie standen nicht länger am Rand des politischen Spiels, sondern ritten auf einer Welle breiter Unterstützung, die innerhalb von Wochen, nicht Jahren, einen echten Wandel bringen konnte. Bei diesem Treffen schrillte eine Alarmglocke in meinem Kopf.
»Ist dir klar, dass du die Verhandlungen mit der EU und dem IWF führen wirst, wenn wir gewinnen?«, fragte mich Pappas mit seinem typischen aufgesetzten Lächeln.
Mein Magen krampfte sich zusammen. Pappas schien in seinem Eifer, mich in die Verhandlungen mit der EU und dem IWF einzubinden, zu vergessen, dass die Wirtschaftspolitik von Syriza die Domäne von Giannis Dragasakis war, dem Schattenfinanzminister der Partei, einem Veteranen der Linken, der bei Alexis’ Aufstieg an die Spitze und schon bei der Gründung des Wahlbündnisses Syriza eine zentrale Rolle gespielt hatte. Obwohl Alexis und Pappas offensichtlich nicht in Erwägung zogen, Dragasakis in den Kampf mit der EU und dem IWF zu schicken, war es doch seine Aufgabe, die wirtschaftspolitische Agenda der Partei zu formulieren; er war ein politisches Schwergewicht, dem sie nicht ohne Weiteres auf die Zehen treten würden. Ich folgerte, dass ihr verständliches Zögern, eben dies zu tun, hinter dem schlecht durchdachten Vorschlag steckte, die Rollen des Chefverhandlers und des Finanzministers zu trennen.
Ich musste erst einmal schlucken, bevor ich auf Pappas’ Frage antworten konnte. Die Augen fest auf Alexis gerichtet, sagte ich, dass ich mich durch ihr Angebot geehrt fühlte, aber nicht wisse, wie die Aufspaltung der Rollen funktioniere solle. Alle Verhandlungen würden innerhalb der Eurogruppe geführt werden, wo jedes Land durch seinen Finanzminister vertreten sei: Um Glaubwürdigkeit und Verhandlungsmacht zu besitzen, brauche der Minister den vollkommenen Rückhalt nicht nur des Regierungschefs, sondern auch des Parlaments und der Wähler. Einen nicht gewählten Technokraten zu Griechenlands Gläubigern zu schicken, um mit ihnen über die wirtschaftliche Befreiung des Landes zu verhandeln, wäre eine vorprogrammierte Katastrophe.
Alexis stimmte mir zu. Daraufhin versuchte Pappas das Gespräch mit der Bitte zu retten, ich solle in einem Papier die optimale Verhandlungsposition skizzieren für den Fall, dass Syriza die Wahl am 14. Juni, gerade einmal drei Wochen später, gewinnen würde. An dem Abend schrieb ich die erste von sehr vielen Versionen dieses Strategiepapiers nieder.
Im Kern formulierte ich zwei Vorschläge zum Umgang mit den griechischen Schulden für die EU und den IWF. Erstens sollten der Staatsbankrott und die Staatsschulden vom Bankrott der Banken und deren privaten Verlusten getrennt werden. Dann könnte der bankrotte Staat nicht für das Geld der europäischen Steuerzahler haftbar gemacht werden, das er nie bekommen hatte. Und wichtiger noch: Die Wiederbelebung der Banken würde nicht durch die Staatsverschuldung behindert. Denn wie sollte der griechische Staat die Banken unterstützen, wenn er doch bankrott war? Ohne diese Entkoppelung würden der Staat und die in Griechenland operierenden Banken weiter in einer Umklammerung stecken wie zwei schlechte Schwimmer in stürmischen Gewässern, die sich aneinander festhalten, während sie gemeinsam auf den Meeresgrund sinken. Wie konnte die Entkoppelung erreicht werden? Indem man Europas Steuerzahler zu den neuen Eigentümern der griechischen Banken machte, damit de facto nicht länger der griechische Staat für die Banken verantwortlich sein würde, sondern das Volk Europas, und die Institutionen der EU würden sie im Namen des Volkes leiten.15 Das wäre der einzige Weg, um das Vertrauen in die Banken wiederherzustellen.
Zweitens sollten jegliche Rückzahlungen der griechischen Staatsschulden aus den beiden Rettungspaketen an die EU und den IWF an die Bedingung geknüpft werden, dass die wirtschaftliche Erholung des Landes erst eine gewisse Dynamik erreicht hätte.16 Nur so hatte die Wirtschaft eine Chance, wieder Tritt zu fassen.
Zusammengenommen würden diese beiden Vorschläge zur Restrukturierung der griechischen Staatsschulden eine neue Ära einläuten: Die EU und der IWF würden sich nicht länger wie Ebenezer Scrooge aus Dickens’ Weihnachtsgeschichte verhalten, sondern vielmehr Partner Griechenlands bei