Mein letzter Flug. Franz Fuhmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Fuhmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783356023879
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Messer geschwungen hatten, und ich log nicht, ich hatte alles ja selbst erlebt. Die Klasse lauschte atemlos; sie hatte mich umdrängt und sah mich bewundernd und auch neidvoll an; ich war ihr Held und hätte jetzt an Karlis Stelle ihr Anführer werden können, doch das wollte ich gar nicht, ich wollte nur einen Blick und wagte doch nicht, ihn zu suchen. Dann kam der Lehrer; wir schrien ihm die ungeheure Nachricht ins Gesicht; fiebernd schilderte ich meine Erlebnisse, und der Lehrer fragte nach Ort und Zeit und Umständen, und ich konnte alles genauestens angeben, da waren keine Mogeleien und Widersprüche, da gab es nichts als unwiderlegliche Tatsachen: das gelbe, ganz gelbe Auto, die vier schwarzen Insassen, die Messer, das Blut am Trittbrett, der Feldweg, der Befehl, mich zu fangen, die Flucht, die Verfolgung, und die Klasse lauschte atemlos, da hob das Mädchen mit dem kurzen, hellen Haar die Hand, und nun wagte ich, ihr ins Gesicht zu sehen, und sie wandte sich halb in ihrer Bank um und sah mich an und lächelte, und mein Herz schwamm fort. Das war die Seligkeit; ich hörte die Grillen schreien und sah den Mohn glühn und roch den Thymianduft, doch nun verwirrte mich das alles nicht mehr, die Welt war wieder heil und ich war ein Held, dem Judenauto entronnen, und das Mädchen sah mich an und lächelte und sagte mit ihrer ruhigen, fast bedächtigen Stimme, daß gestern ihr Onkel mit zwei Freunden zu Besuch gekommen sei; sie seien im Auto gekommen, sagte sie langsam, und das Wort »Auto« fuhr mir wie ein Pfeil ins Hirn; in einem braunen Auto seien sie gekommen, sagte sie, und sie sagte auf die hastige Frage des Lehrers, sie seien zur gleichen Zeit, da ich das Judenauto gesehn haben wollte, den gleichen Feldweg hinabgefahren, und ihr Onkel habe einen Jungen, der am Wiesenrand gestanden habe, nach dem Weg gefragt, und der Junge sei schreiend davongelaufen, und sie strich die Zunge über ihre dünnen Lippen und sagte, ganz langsam, der Junge am Weg habe genau solche grünen Lederhosen getragen wie ich, und dabei sah sie mich freundlich lächelnd an und alle, so fühlte ich, sahen mich an und ich fühlte ihre Blicke bös wie Wespen schwirren, Wespenschwärme über Thymianbüschen, und das Mädchen lächelte mit jener ruhigen Grausamkeit, deren nur Kinder fähig sind, und als dann eine Stimme aus mir herausbrüllte, die blöde Gans spinne ja, es sei das Judenauto gewesen: gelb, ganz gelb und vier schwarze Juden drin mit blutigen Messern, da hörte ich wie aus einer anderen Welt durch mein Brüllen ihre ruhige Stimme sagen, sie habe mich ja selbst vor dem Auto davonlaufen sehen. Sie sagte es ganz ruhig, und ich hörte, wie mein Brüllen jählings abbrach; ich schloß die Augen, es war Totenstille, da plötzlich hörte ich ein Lachen, ein spitzes, kicherndes Mädchenlachen wie Grillengezirp schrill, und dann toste eine brüllende Woge Gelächter durch den Raum und spülte mich fort. Ich stürzte aus der Klasse hinaus und rannte aufs Klosett und schloß hinter mir zu; Tränen schossen mir aus den Augen, ich stand eine Weile betäubt im beizenden Chlorgeruch und hatte keine Gedanken und starrte die schwarzgeteerte, stinkende Wand an und plötzlich wußte ich: Sie waren dran schuld! Sie waren dran schuld, sie, nur sie: Sie hatten alles Schlechte gemacht, was es auf der Welt gibt, sie hatten meinem Vater das Geschäft ruiniert, sie hatten die Krise gemacht und den Weizen ins Meer geschüttet, sie zogen mit ihren gemeinen Tricks den ehrlichen Leuten das Geld aus der Tasche, und auch mit mir hatten sie einen ihrer hundsgemeinen Tricks gemacht, um mich vor der Klasse zu blamieren: Sie waren schuld an allem; sie, kein andrer, nur sie! Ich knirschte mit den Zähnen: Sie waren schuld! Heulend sprach ich ihren Namen aus; ich schlug die Fäuste vor die Augen und stand im schwarzgeteerten, chlordünstenden Knabenklosett und schrie ihren Namen: »Juden!« schrie ich und wieder: »Juden!«, und wie das nur klang: »Juden, Judenl«, und ich stand heulend in der Klosettzelle und schrie Juden Juden Juden Juden, und dann erbrach ich mich. Juden. Sie waren schuld. Juden. Ich würgte und ballte die Fäuste. Juden. Juden Juden Juden Juden. Sie waren dran schuld. Ich haßte sie.

       Indianergesang

      Rothäutig kam die Dämmrung. Heroisch war der Tod.

      Miklós Radnóti

      GING GEI

      DALLIMONI DILLIMONI NASSE

      GING GEI

      Gl GING GEI GA

      GING GEI

      DALLIMONI DILLIMONI NASSE

      GING GEI

      Gl GING GEI GA

      BELLA BELL BELLAMA

      BELLA MATSCHE BELLA MO

      BELLA BELL BELLAMA

      BELLA MATSCHE BELLA MO

      TSCHALLAWEI TSCHALLAWEI

      TSCHALLAWEI TSCHALLAWEI

      WUMBA WUMBA

      WUMBA WUMBA

      – und mehr bedarf’s nicht, um diesen faszinierenden Schall zu bannen, denn wem hier noch nicht der Rauch der Prärie in die Nüstern und das Heulen der Squaws vor dem Marterpfahl ans Herz gestiegen ist, der braucht gar nicht mehr weiterzulesen. Uns jedenfalls überwältigten diese Verse beim ersten Hören, und wir begannen, als sie der Herr Kaplan mit uns für das große Missionsfest einstudierte, ihren Rhythmus sogleich an Ort und Stelle zu stampfen, und wenn auch keiner von uns gerade des Lesens mächtig gewordenen Landjungens Latein verstand, begriffen wir doch sofort, daß das herrliche Wort BELLA etwas mit Krieg zu tun haben mußte, denn schon bei der ersten Probe wechselten wir, ohne daß uns der Herr Kaplan besonders hätte darauf hinweisen müssen, an dieser Stelle aus unserm bis dahin gleichmäßig im Kreise trabenden Trott mit dem linken Fuß in den ersten Tritt eines savannenfressenden Stechschritts über und drückten die Knie durch und wölbten die Brust und reckten die Hälse und schmetterten blitzenden Auges: BELLA!, schallend aus den Fanfaren der Kehlen: BELLA!, und die Mauern und Zäune und Gatter sanken in sich zusammen, und der Herr Kaplan rief begeistert: »Gut so, Buben, brav so, recht so, singt’s so laut, wie daß ihr’s könnt!«, und er sprang, seine Kutte raffend, mit einem Satz an die Spitze unseres der noch fernen Schlacht entgegendürstenden Kriegszugs, und es hätte weder seiner hochgeschleuderten und drei Marschtakte lang über unseren Köpfen geschüttelten Faust noch dann des dämpfenden Zeichens der nun weitgespreizt mehrmals nach vorne wippenden Hand bedurft, um uns das MATSCHE, mit aller Stimmkraft bis zum Versiegen des Atems gebrüllt, das nach einem hastigen Luftholen folgende BELLA MO hingegen verhaltener, doch in einem unwiderstehlich wuchtigen Stoß endend, über den entsetzt sich duckenden Schulhof senden zu lassen. Wir hatten diesen Gesang im Blut, als wäre er uns an der Wiege gesungen worden.

      Was Wunder, daß sich da Schritt und Ton von selbst ergaben; es konnte einfach nicht anders sein. GING GEI – die Stille, zerschlitzt und zerbeilt, klafft auf wie eine Nacht oder eine Felswand, und die Indianer brechen herein. Sie tragen Federn auf dem Kopf wie Geier, ihre Gesichter sind von schwarzen und roten Zonen durchquert, und in ihren Fäusten blitzen Klingen. Ihre Augen sind ins Weiße gezerrt, und ihre offenen Münder dampfen. Sie brechen ganz langsam herein wie ein Verhängnis, das hoffnungsverheißend gerade dann zögert, da es beschließt, von nun an unaufhaltsam zu sein, und so machen sie denn, indes ihre Äxte und Messer scheinbar unentschlossen warten, zwischen GING und GEI und auch noch nach dem GEI eine furchtbare Pause, und rings das lebendige Gras wird grau. Es müßte in Mürbheit zerbröckeln, da die Erde vor Angst den Atem anhält, doch da federt es schon wieder frisch und grün unterm Fuß der neuen Herren, denn nun sind die Indianer da, als seien sie es schon immer gewesen und es habe niemals diese Welt gegeben ohne sie und ihren Gesang: GING GEI DALLIMONI DILLIMONI – seht: da laufen sie in einem unermeßlich weit den Horizont begrenzenden Bogen; DALLIMONI DILLIMONI NASSE: leicht und locker, ihre Oberkörper wie Kronen im heiteren Atem des Kriegsgotts wiegend, laufen sie sich im lässigen Gliederlüften Savannen um Savannen ein, bis sie plötzlich mit einem Ruck ins ungeheure Stampfen des Heerzugs hinüberwechseln: BELLA, und da erzittert die Erde und reißt, und die Krieger wölben die Brust wie einem Himmel den Kugeln entgegen, die ihnen nun aus allen Blockhäusern und Forts der Bleichgesichter entgegenrasen, doch immer herrischer dröhnen die Füße: BELLA BELL BELLAMA, und wenn nun auch das Gras rings rot wird und die Schlünde der berstenden Steppe sich stumm mit Hinabgesunkenen füllen und wieder eben werden und sich erheben und zu Bergen wachsen: BELLA! BELL BELLAMA! BELLA MATSCHE! BELLA MO – o ihr Brüder in der Bläue des Schweigens, o ihr Berge am Weg, o ihr Blumen so rot –, und nun, da der rammende Stoß noch einmal zu neuem Anlauf zurückschnellt, beginnt die Rache zu brodeln: