wert gewesen; nur mir allein hatte er gezeigt, was er konnte, und nun ging er fort, um nicht mehr wiederzukommen, in diesen Ort, der seiner Gegenwart nicht würdig war! Ach, nun ging er fort, und ich mußte doch mit ihm! Alles Leid meiner zehn Knabenjahre, und das war nicht Hunger und Not und Darben, das war im Gegenteil die furchtbare, hundertfache, jeden Zauber einer bang und heiß erwarteten Erfüllung ausschließende Sättigung, für die ich mit dem Verharren innerhalb der Mauern der Ver- und Gebote meines standesbewußten Vaters zahlte, Mauern, die mich in eine trotz ihres schnöden Reichtums öde und kalte Bürgerwelt sperrten und mir jeden Bezirk meiner Sehnsucht verschlossen – alles dies Leid stand in mir auf und drängte mich, dem Mann nachzulaufen und vor ihm auf die Knie zu fallen und ihn um Verzeihung zu bitten für die Schmach, die man ihm angetan, und um Verzeihung auch für meinen Vater, der nun, wofür ich ihn hätte erwürgen können, mit seiner Baßstimme rief: »Vergessen Sie nur Ihren Prachtzylinder nicht, Sie Künstler!« und dazu vor einem orgiastischen Publikum eine ebenso sich entschuldigende wie den Gescheiterten noch tiefer demütigende Geste machte; ihm nachlaufen, nacheilen, vor ihm aufs Knie fallen und ihn anflehn, mich mitzunehmen und mit mir fortzugehn, fort, fort, dorthin, wo ich ein Kind sein durfte wie alle anderen Kinder auch, wo man sich schmutzig machen und mit Söhnen von Fabrikarbeitern und Häuslern spielen und seine Freunde umarmen und seine Feinde ins Gesicht schlagen durfte, auch wenn es dann nicht jeden Tag Braten gab und Obst und Schokolade und wenn dort auch kein Herrenzimmer war mit ledernen Klubsesseln und bronzegetriebenem Rauchtisch; fort aus diesem Vaterhaus, das bei all seinem Überfluß an Tafelfreuden und Kleidung und Geschenken eine einzige grausame Zwingburg war und das ich haßte, haßte, mit heißem Haß haßte, so wie ich jetzt auch den täglichen Braten und die tägliche Schokolade und die Ledersessel und Rauchtische haßte; ich wollte fort, fort, nur fort, in die Welt, dorthin, wo Abenteuer waren, Zauber, Gespenster, wo man hungerte und fror und litt und wo ein Stück Brot eine Herrlichkeit sein mochte, fort zu der nahen Insel meiner Träume, wo das geheimnisvolle Andere war. Oh, ich beneidete und bewunderte sie jetzt alle, die je auf der Treppe meines Vaterhauses auf der obersten, mit braungelbem, liliengemustertem, schon etwas abgewetztem Stoff überspannten Stufe gehockt und gierig Essenreste in sich hineingeschlungen hatten; ich beneidete und bewunderte sie so, wie ich diesen sauberen, hochmütigen jungen Schnösel verabscheute, der sie auf die Treppenstufen sich niedersetzen hieß und sie mit Abfall speiste, und wie ich den herrischen Vater verabscheute, der dem faulen Schüler dies widerliche Amt zur Besserung aufgezwungen; ich wollte fort und wußte, daß es meine einzige und letzte Chance war. Nicht
ihm war die Chance gegeben worden, er brauchte sie nicht, es war
meine Chance, und ich wußte jetzt schon, daß ich sie verloren hatte und nicht mehr die Kraft besitzen würde, aufzuspringen und nachzufolgen. Das Licht erlosch; das Gelächter verebbte; der Klavierspieler spielte einen schmachtenden Walzer; der Vorhang glitt zurück, und eine breite weiße Leinwandfläche ward sichtbar in der anheimelnden Dämmerung; es schnurrte und surrte, und ein gebündeltes Licht flirrte, und während, Wunder über Wunder, auf der Leinwand ein lebendiger Mann im Frack und eine lebendige Frau in prächtig glitzerndem Kleid einander entgegentanzten, schoß noch einmal ein Streifen zitternder Helle durch den Saal: Der Zauberer hatte die Tür geöffnet und war ins Freie getreten und hatte die Tür wieder hinter sich geschlossen, und ich wußte, daß ich meine Chance unwiederbringlich vertan hatte und ihn nie wiedersehen würde, und während ich darob noch einen wehen, aber fast schon süßen Schmerz fühlte, begann ich mit wachsender Verzückung wahrzunehmen, wie die Leinwand, nachdem das Paar sich im Tanz gefunden und wieder gelöst hatte, sich plötzlich mit wogenden Palmen bedeckte, Palmen und Meer und Hibiskus und Maste, und ich war dabei, als einziges Kind des Städtchens war ich dabei, und das verdankte ich nur meinem Vater, und ich suchte seine Hand, sie dankbar zu drücken, indes auf der Leinwand ein Schiff vom Anker sich löste und mit mir über ein noch nie geschautes Südmeer hin zu einem Strand aus Blütenkränzen und Korallen trieb …