(ii) Die Entwicklungen von der antiken Bürgergemeinschaft hin zur modernen Bürgergesellschaft sind mit vielen bedeutenden wie konstitutiven Errungenschaften, insbesondere in Europa, verbunden, die an dieser Stelle weder hinterfragt noch kritisiert werden sollen – dabei, wie genannt, allen voran Individualität und Mündigkeit des einzelnen Menschen in seinem Leben in der Gesellschaft. Das hat dazu beigetragen, Gemeinschaft und Gesellschaft in einem nächsten Schritt deutlicher als zuvor auseinanderzuhalten. Die politische Partizipation wurde dabei zumeist – zweifelsfrei nicht überall – in den gesellschaftlichen Raum übertragen und von der unmittelbaren individuellen wie mündigen Lebensführung weiter entfernt.
(iii) Doch diese beiden zuletzt genannten Aspekte dürfen nicht dazu anleiten anzunehmen, dass die moderne Bürgergesellschaft nicht auch zugleich eine Form der Bürgergemeinschaft in ihrem Kern beinhalte. Denn, wie gerade vorab gezeigt, insbesondere in Krisenzeiten wird deutlich sichtbar, wie sehr der Mensch Gemeinschaftslebewesen ist und nicht bloß ein gesellschaftlich individualisiertes Individuum in einem (im weiteren Verständnis) zur Gänze politikfreiem Lebensraum. Denn, wie mit Aristoteles festgehalten: Der Mensch ist, zum einen für das bloße (Über-)Leben, zum anderen für das gute und gelingende Leben, auf den Mitmenschen unmittelbar angewiesen. Ein Grundbaustein des Verständnisses von menschlicher (politischer) Gemeinschaft. Und diese Perspektive hat nach wie vor ihre Gültigkeit.
(iv) Aus dieser politisch-anthropologischen Einsicht heraus, dass der Mensch ein individuelles, mündiges Gemeinschaftslebewesen ist, lässt sich weiters ableiten, dass dem einen das Leben des anderen, insbesondere innerhalb des eigenen Staats, nicht vollends gleichgültig sein kann. Die Grundlage dieser Nichtgleichgültigkeit lässt sich mit der Notwendigkeit eines Grundmaßes an gemeinschaftspolitischer Empathie zum Ausdruck bringen. Denn Ethik und Politik stehen auch im modernen Verständnis des Politischen nicht so weit auseinander wie es vielleicht in der aktuellen politischen Praxis auf einen ersten Blick wirken mag. (Abermals: Die Antike hat um diese unauflösliche Symbiose von Ethik und Politik gewusst.)
(v) Im modernen Verständnis lässt sich diese gemeinschaftspolitische Empathie als Bürgerrecht und Bürgerpflicht aus ethisch-politischer Perspektive bezeichnen. Zum einen haben die Bürgerinnen und Bürger ein Anrecht darauf, dass sie von der Politik auf der einen Seite und den Mitbürgerinnen und Mitbürgern auf der anderen Seite nicht zurückgelassen werden, innerhalb gesellschaftspolitischer Diskurse und Entwicklungen. Zum anderen zeigt sich auch die ethisch-politische Herausforderung an den Einzelnen, den individuellen wie mündigen Menschen innerhalb von politischer Gemeinschaft wie Gesellschaft, Rücksicht auf andere zu nehmen und den anderen letztendlich auch in seiner Individualität wie Mündigkeit anzuerkennen.
Literatur
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Varga, Simon: Perspektiven kosmopolitischer Menschenwürde in der Philosophie der Antike. In: Sedmak, Clemens (Hg.), Menschenwürde: Vom Selbstwert des Menschen, Grundwerte Europas, Band 7, Darmstadt 2017.
1 Funke, Peter: Die griechische Staatenwelt in klassischer Zeit. In: Gehrke, Hans-Joachim / Schneider, Helmuth (Hg.), Geschichte der Antike, Stuttgart 2006, S. 176.
2 Lotze, Detlef: Griechische Geschichte: Von den Anfängen bis zum Hellenismus, München 2010, S. 21.
3 Bürgin, Alfred: Zur Soziogenese der politischen Ökonomie: Wirtschaftsgeschichtliche und dogmengeschichtliche Betrachtungen, Marburg 1996, S. 30.
4 Cancik, Hubert / Schneider, Helmuth (Hg.), Der neue Pauly: Enzyklopädie der Antike, Stuttgart 2001, Band 10, S. 23, s. v. „Polis“.
5 Funke, Peter: Die griechische Staatenwelt in klassischer Zeit. In: Gehrke, Hans-Joachim / Schneider, Helmuth (Hg.), Geschichte der Antike, Stuttgart 2006, S. 166.
6 Vgl. Varga, Simon: Perspektiven kosmopolitischer Menschenwürde in der Philosophie der Antike. In: Sedmak, Clemens (Hg.), Menschenwürde: Vom Selbstwert des Menschen, Grundwerte Europas Band 7, Darmstadt 2017, S. 118–119.
7 Vgl. Aischylos: Die Perser. Übersetzt von Emil Staiger, Stuttgart 2015, S. 242–245.
8 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt von Ursula Wolf, Hamburg 2006, X 10, 1181b15.
9 Höffe, Otfried: Geschichte des politischen Denkens, München 2016, S. 54.
10 Vgl. Aristoteles: Politik. Übersetzt von Franz Susemihl, Hamburg 2003, I 2, 1253a7.
11 Vgl. Aristoteles: Politik. Übersetzt von Franz Susemihl, Hamburg 2003, I 2, 1253a15.
12 Aristoteles: Eudemische Ethik. Übersetzt von Franz Dirlmeier, Berlin 1984, VII 10, 1242a25.
13 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt von Ursula Wolf, Hamburg 2006, X 9, 1170b11.
14 Vgl. Aristoteles: Politik. Übersetzt von Franz Susemihl, Hamburg 2003, I 2, 1253a26-29.
15 Vgl. Aristoteles: Politik. Übersetzt von Franz Susemihl, Hamburg 2003, VII 4, 1325b36.
16 Vgl. Varga, Simon: Vom erstrebenswertesten Leben – Aristoteles’ Philosophie der Muße, Boston/Berlin 2014, S. 183–185.
17 Wolfgang Kullmann sieht es als „bemerkenswert“ an, dass im Rahmen des Staats nach bestem Ermessen für den Bürger die Möglichkeit bestehen würde, „sich vom politischen Leben zurückzuziehen und sozusagen ‚unpolitisch‘ zu leben“. Es