Wer in seinen Angstvisionen vom neoautoritären Staat fantasiert, mag zunächst Mut fassen. Keine Folterkammern, keine Volksgerichtshöfe. Und Datenschutz über alles! Das echte Problem aber ist eine bizarre Mischung aus Inkompetenz und schleichendem Übergriff im Namen des Guten: der absoluten Risikoabwehr. Auf der einen Seite liegen Millionen ungenutzter Impfdosen, das chaotische Nebeneinander ewig wechselnder Befehle. Auf der anderen steht ein Staat, der mit jedem Fehltritt seine Macht ausdehnt. Die Inzidenzzahlen steigen? Dann Versammlungsverbot, Ausgangssperre und Lockdown – und zwar mit dem Bürger als willigem Komplizen.
Aufblähen ohne Rechenschaft
Wer hier von der ›Covid-Diktatur‹ faselt, kennt den echten Zwangsstaat nicht und ignoriert zudem die Geschichte des 20. Jahrhunderts, in dem auch der gute Staat unaufhörlich zu wuchern begann. Die beste Messlatte der Macht ist die Staatsquote – welchen Anteil am Bruttoinlandprodukt (BIP) die Regierung unters Volk bringt, um es zu ködern und den Staatsapparat aufzublähen, ohne sich unbedingt um Rechenschaft zu kümmern.
Um 1900 kassierte der amerikanische Gesamtstaat 8 Prozent, im Corona-Jahr 2021 waren es über 44, also fünfmal so viel. Bloß betrug die Quote schon vor der Covid-19-Pandemie an die 40 Prozent. Grossbritannien: von 12 Prozent vor 120 Jahren auf 51 Prozent heute. Deutschland: von 20 auf 45 bis zur Corona-Krise; jetzt 57. Die Schweiz steht leicht besser da, aber auch hier gilt: Seit 100 Jahren nimmt sich der Staat immer mehr, und Covid-19 ist nur der Extraklacks obendrauf. So oder so öffnet sich der Weg in die demokratische Staatswirtschaft.
Gleiches gilt auch für die Sozialquote: was der Staat verteilt, um die Bürger bei Laune zu halten. Die Quote ist seit 1900 im Westen von ein paar Prozent steil hochgeschossen – auf ein Drittel des BIP in Frankreich, auf mehr als ein Viertel in Deutschland. In der amerikanischen Hochburg des angeblichen Raubtierkapitalismus lag das ›social spending‹ vor 120 Jahren bei knapp über null, nunmehr bei 20 plus. Märchenhaft wächst der gute Staat von Stockton, Kalifornien, bis Stockholm, Schweden.
»Money talks«, besagt ein amerikanisches Wort; auf Deutsch: »Wer zahlt, schafft an.« Der Staat nährt und impft, lockt und bindet mich – Ware gegen Wohlverhalten.
Wohlfahrt contra woke
Worin also liegt der Unterschied zwischen Wohlfahrt und woke? Der gute Staat nutzt nicht Peitsche, sondern Zuckerbrot. Er macht angebotsorientierte Politik: Kommt, labt euch, und lasst uns machen. Der Staat wächst unaufhaltsam, wie die historischen Daten zeigen, und der autonome, selbstverantwortliche Mensch schrumpft.
Woke hingegen ist, was früher Jakobiner und Rote Garden erzwungen haben. Woke ist das schiere Powerplay, was Lenin kto kowo nannte, »Wer bezwingt wen?«. Ächtung und sanfter Zwang bestimmen Sprache, Denken und Verhalten. Wir ›Aufgewachten‹ entscheiden, wer die Opfer und die immergleichen Täter sind. Im Namen des anderen verteufeln wir, wer anders denkt. Wir verwirklichen die Tugendherrschaft ganz ohne Gestapo, weil wir die Produktionsmittel der Kultur besitzen. So lenken wir das Denken.
Beide bedrohen die Freiheit – der eine herrisch, der andere hilfsbereit. Man möchte sich so gern auflehnen. Aber gegen wen? Gegen die Hoheitsverwalter der Kultur, die man nicht abwählen kann? Gegen unsere fürsorglichen Regenten, die uns Vakzine und Masken sowie bis zu einem Drittel des Volkseinkommens schenken? Holen wir uns lieber eine neue Versicherungspolice vom großherzigen Staat; die Schulden zahlt die nächste Generation, wenn nicht unser Eigentum schon zu Lebzeiten im Feuer der Inflation verbrennt.
Welche Rolle könnte dabei der Journalismus spielen? Das Problem: Es gibt ›den‹ Journalismus nicht mehr, weil in digitalen Zeiten jeder sein eigener ›Verleger‹ sein kann. Ein PC und Internetanschluss genügen. Das heißt: Abertausende von Echokammern, wo nicht das wohlbedachte Argument erschallt, auch nicht ein halbwegs nachdenkliches Publikum zuhört. Es regieren der schnelle Tweet, den vor allem die eigene Gemeinde liest, die reflexhafte Empörung, die den rationalen, faktenbasierten Diskurs ersetzt.
Die zweite Echokammer sind die etablierten Medien, die einst ein nationales Publikum hatten. Sie gleichen heute eher Kirchen, wo die Gemeinde den gewünschten Wahrheiten lauscht. Solche ›Kirchenblätter‹ gab es schon immer – von links bis rechts, von säkular bis religiös. Aber die großen Blätter und TV-Sender, die sich einst um Neutralität bemühten, sind nun keine Plattformen, sondern Parteigänger, welche die traditionellen Grenzen zwischen Meinung und Nachrichten systematisch verwischen. Die Folge, wie der Zeit-Journalist Karl-Heinz Janßen schon vor Jahrzehnten ironisch notierte: »Liberale werden zwischen allen Stühlen erschossen.«
Die dritte Echokammer sind die Universitäten, theoretisch die Lordsiegelbewahrer des kritischen, evidenzbasierten Denkens. In den Geistes- und Sozialwissenschaften wird der lebhafte, aber respektvolle Disput zusehends von Gleich- und Gutdenk verdrängt. Hier wächst aber die nächste Journalisten-Generation heran, die lernt, dass ›Haltung‹ wichtiger ist als die unvoreingenommene, ergebnisoffene Recherche.
Wie das enden soll? Jeder, ob konservativ oder progressiv, muss sich wünschen: Zeit zum Aufwachen, aber im Sinne der Aufklärung, deren Prinzipien die Woken meucheln wollen, derweil der gute Staat den mündigen Bürger großherzig einschläfert. Statt großer Bruder oder netter Onkel Descartes und Kant! Statt Gutdenk Selbstdenk – aber bitte ohne Aluhüte und Verschwörungsgefasel.
1Dieses Kapitel basiert auf einem Essay in der Neuen Zürcher Zeitung vom 27. März 2021.
2https://equitablemath.org/wp-content/uploads/sites/2/2020/11/1_STRIDE1.pdf [29.9.2021]
Daniel Cohn-Bendit / Claus Leggewie
Pluralität und Toleranz – alte Werte neu entdeckt1
Im Kampf gegen Diskriminierung dürfen wir uns nicht auseinanderdividieren.
Die das schreiben, sind alt, weiß, männlich, privilegiert. In den Augen mancher (und es werden mehr), sollten solche Leute mal schön den Mund halten. Das ist nicht völlig falsch. Sie sollten tatsächlich besser zuhören, keine vorlauten Ratschläge geben, Privilegien aufgeben, anderen den Vortritt lassen. Wer mal rüde unterbrochen wird, kann eventuell besser nachvollziehen, wie es Menschen ergangen ist, denen der Zugang zur breiteren Öffentlichkeit verwehrt blieb oder deren Äußerungen dort geringgeschätzt werden.
Die Klagen alter, weißer, privilegierter Männer (und es werden mehr), dass man ihnen das Wort abschneidet, sie nicht respektiert, ihre Äußerungen heruntermacht, ihre Auftritte stört und verhindert, beruhen oft auf reinem Hörensagen. Doch immer häufiger auch auf realen, messbaren Beschränkungen der Meinungsfreiheit, die bekanntlich weder auf Altersgruppen noch auf ethnischer Zugehörigkeit noch auf sexueller Orientierung beruht, sondern nur als universales Recht für alle funktionieren kann.
Von einer Zensur, einer Schweigespirale, einem Maulkorb für alte weiße Männer mit Macht und Einfluss kann in diesem Land bislang keine Rede sein. Haltungen und Einstellungen zu überdenken, die man für selbstverständlich erachtet hat, ist kein bedauernswertes Alters-Schicksal, sondern eher eine Chance und wieder ein kleines Privileg.
So weit, so gut. Doch lehrt die Erfahrung sozialer Bewegungen, die ins Sektenwesen abgerutscht sind, dass Opposition bereits in sich plural sein muss und eine Atmosphäre des Respekts rundum notwendig ist. Wir wissen, wovon wir reden: Die 68er-Bewegung ist in irrwitzige Sekten zerfallen, falsche Radikalität führte zum Scheitern. Besser ist man vereint, statt dem Narzissmus der allerkleinsten Differenz zu frönen. Oder marschiert allein, aber nicht unter der Bedingung, dass sich alle anderen unterordnen. Widerstand nimmt wirkliche, mächtige Gegner ins Visier und darf sich nicht selbst auf der Suche nach Abweichlern und Verrätern in den eigenen Reihen entkräften.
Besonders fatal ist die Ansage, man dürfe