Das Präsidium. Ralf Schwob. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ralf Schwob
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783955424275
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sicher, glaubte aber, dass er zu einem der Schließfächer im Hauptbahnhof passen könnte. Thomas hatte im letzten Frühjahr einmal Wechselkleidung für den Abend dort deponiert, als seine Abteilung einen feuchtfröhlichen Ausflug mit dem ›Ebbelwei-Express‹ unternommen hatte. Er würde den Schlüssel der Polizei übergeben und ihnen sagen müssen, dass er ihn aufgehoben hat, wegen der Fingerabdrücke natürlich. Er würde ...

      Thomas steckte den Schlüssel ein, dann schloss er die Kabinentür hinter sich und verließ den Toilettenbereich. Aus dem Gastraum war nichts zu hören außer dem gelegentlichen Gedudel des Glücksspielautomaten. Die Tür am Ende des Flurs zum Hinterhof war immer noch mit einem Keil blockiert und stand weit offen.

      ***

      Maik kam nur selten hier herauf. Die Gefahr, von der Straße aus gesehen zu werden, war einfach zu groß.

      Seit er vor zehn Jahren auf der Flucht vor einem seiner Betrugsopfer zum ersten Mal im Gebäudekomplex des alten Polizeipräsidiums gewesen war, hatte sich einiges verändert. Waren es am Anfang meistens Junkies und Obdachlose, die sich nachts im Gebäude herumtrieben, kamen nun richtige kleine Banden auf der Suche nach Kupfer und anderem verwertbarem Metall und lieferten sich mit den Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes ein Katz-und-Maus-Spiel. Maik kannte sich mittlerweile so gut in dem alten Kasten aus, dass er sowohl den einen als auch den anderen erfolgreich aus dem Weg gehen konnte. Der Bau war jedenfalls ideal für jemanden, der kurzzeitig von der Bildfläche verschwinden musste, und das hatte er in den vergangenen Jahren immer mal wieder tun müssen, aber wohl noch niemals so dringend wie im Moment.

      Die Wendeltreppe im Dach des alten Präsidiums führte in die verglaste Kuppel des Turms, von der aus man auf einen Umlauf treten konnte und an klaren Tagen wie heute einen schönen Blick über Frankfurt hatte. Unter den Dachsparren und zwischen den von Tauben zugeschissenen Verstrebungen stand im Sommer die Hitze, aber sobald man oben aus dem Turm trat, war die Luft frisch und ließ einen aufatmen. Maik hielt sich von der Brüstung fern, lehnte sich an die Kuppel und zündete sich eine Zigarette an. Unter ihm rauschte der Verkehr über die Ebert-Anlage und in der Ferne erhob sich der Ginnheimer Spargel vor einem wolkenlosen, tiefblauen Himmel. Die Sonne spiegelte sich in den verglasten Hochhausfassaden gegenüber, es war ein herrlicher Frühsommertag – und Maik saß bis zum Hals in der Scheiße.

      Die Kurierfahrten kreuz und quer durch Deutschland und oft auch darüber hinaus waren in den letzten 12 Monaten zu seiner Haupteinnahmequelle geworden. Er kannte seine Auftraggeber nicht, er kannte nur ständig wechselnde Kontaktleute und deren Namen, die garantiert nicht ihre richtigen waren. Man kommunizierte sowieso fast nur über Prepaidhandys. Meistens fuhr er Drogen, manchmal Diebesgut, selten auch Waffen. Die Bezahlung war extrem hoch, das Risiko aber auch. Wenn er erwischt würde, gäbe es kein Netz und niemanden, der ihn raushauen könnte.

      Für die langen Fahrten brauchte er einen zuverlässigen Beifahrer, mit dem er sich am Steuer abwechseln konnte. Und blöd wie er war, hatte er sich seinen alten Kumpel Zoran dafür ausgesucht. Und natürlich für ihn gebürgt ...

      Maik drückte die Zigarette an der mit Graffitis beschmierten Glaswand aus und machte sich an den Abstieg. Am Anfang hatte er jedes Mal einen Drehwurm bekommen, wenn er die Wendeltreppe zu schnell hinuntergepoltert war. Unten angekommen, war er dann wie ein Betrunkener mit dem Kopf gegen eine der massiven Querstreben getaumelt und hatte sich die eine und andere üble Beule zugezogen.

      Heute machte er langsam, auf halber Höhe saß eine Taube im Gebälk und gurrte ihn an.

      »Scheißvieh«, zischte Maik, es kam ihm so vor, als lache die Luftratte ihn aus, weil er so naiv gewesen war, seinem Jugendfreund Zoran zu vertrauen.

      Sie waren im Stadtteil Frankfurter Berg aufgewachsen und hatten beide das gleiche Problem: Ihre Namen weckten falsche Vorstellungen. Zoran war kein Jugo und Maik kein Ossi. Er war zwar in Thüringen geboren, aber mit seiner hessischen Mutter schon im zarten Alter von zwei Jahren nach Frankfurt gekommen. Auch das hatten die beiden Jungs gemeinsam: alleinerziehende Mütter, die mit ihren Söhnen heillos überfordert waren.

      Mit Zoran hatte er damals im Viertel Automaten geknackt und war nachts in Wasserhäuschen eingestiegen, und als sie erwischt und vom Jugendgericht verknackt wurden, hatte er mit ihm zusammen Sozialstunden abgeleistet. Später hatten sie sich aus den Augen verloren. Maik war nach der Hauptschule (und ein paar abgebrochenen berufsvorbereitenden Maßnahmen und Lehrstellen) ein paar Jahre beim Bund hängengeblieben, hatte später im Sicherheitsdienst und als Türsteher gearbeitet und nebenbei immer mal was vertickt, Hehlerware an den Mann gebracht, mit weichen Drogen gedealt, Autos der gehobenen PS- und Preisklasse ›überführt‹, die bei Nacht und Nebel den Besitzer wechselten.

      Dann kam der Job als Kurierfahrer und ausgerechnet da war ihm Zoran wieder über den Weg gelaufen – der gute alte Zoran, nicht besonders helle in der Birne, aber einer, auf den man sich immer verlassen konnte. Zumindest hatte er das bis vor rund 24 Stunden geglaubt.

      Der alte Teil des Präsidiums war ein Konstrukt aus endlosen Fluren, Zimmerfluchten und Treppenhäusern, die einem die Orientierung raubten, wenn man zum ersten Mal hier war. Mittlerweile fand sich Maik notfalls auch nachts mit einer kleinen Taschenlampe zurecht, wenn er auf den Wegen blieb, die ihm vertraut waren. An einem Sommertag wie heute schien die Sonne durch die hohen Fenster und ließ die Staubkörner auf den Fluren in der Luft tanzen. Die zugemüllten und von Unkraut überwucherten Innenhöfe wirkten dann wie verwunschene Oasen, die einen lockten und gleichzeitig abstießen.

      Maik machte sich auf den Weg in den Neubau des Präsidiums, der über einen brückenartigen Verbindungsgang vom alten Gebäude aus zu erreichen war. Hier war die Feuchtigkeit teilweise schon so tief ins Mauerwerk eingedrungen, dass in manchen Zimmern farnartige Pflanzen zwischen den Bodenplatten hervorwuchsen und grüner Schimmel großflächig die Außenwände bedeckte. Einige der Zimmer im zweiten Stock waren jedoch in passablem Zustand, hier hingen sogar noch die alten Büroschilder der entsprechenden Kommissariate vor den Büros.

      Maik betrat das Büro, in dem er die Nacht verbracht und seinen Rucksack zurückgelassen hatte. Vom Fenster aus sah er auf die Mainzer Landstraße herunter, Autos fuhren vorbei, Menschen bevölkerten die Bürgersteige, eine Ampel sprang auf Rot, der Verkehr stockte. Ein LKW bremste abrupt ab und der tiefergelegte Sportwagen hinter ihm wechselte rasant die Spur.

      Der Klingelton seines Handys ließ ihn zusammenzucken. Bisher hatte er alle Anrufe unbeantwortet gelassen, aber er wusste, dass er früher oder später rangehen musste.

      »Ja?«, meldete er sich, und der Anrufer sagte genau das, was Maik erwartet hatte.

      »Er hat Scheiße gebaut, ja, ich weiß, aber ...«

      Der Anrufer ließ ihn nicht ausreden. Sie hatten den BMW am Osthafen gefunden. Natürlich ohne die Ware. Sie hatten Zoran in einem Puff im Bahnhofsviertel aufgestöbert, er war ihnen aber entkommen. Offenbar hatte er sogar einen seiner Verfolger erschossen, aber wohl auch selbst etwas abbekommen. Ob er wisse, wo sein Kumpel jetzt stecken könne?

      Maik dachte fieberhaft nach, aber ihm fiel nur die kleine heruntergekommene Hochhauswohnung im Niederräder Mainfeld ein, in der Zoran zuletzt gehaust hatte, aber so doof, sich dort zu verstecken, war noch nicht einmal Zoran. Er versprach dem Anrufer trotzdem, dort als Erstes zu suchen.

      »Ich finde ihn, okay? Ich bring das wieder in Ordnung, garantiert, ich brauche nur ...«, sagte Maik, aber der Mann schnitt ihm erneut das Wort ab.

      Maik ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen und atmete erschöpft aus.

      »Eine Woche«, hatte der Anrufer gesagt und aufgelegt.

      ***

      »Hier entlang geht’s zu den Mädels, Kumpel.« Der Typ, der rauchend im Hauseingang lehnte, zwinkerte Thomas zu.

      Offenbar war er etwas zu lange stehen geblieben und wirkte jetzt wie ein schüchterner Freier, dabei war er nur verwirrt. Thomas schüttelte den Kopf.

      »Dann halt nicht«, knurrte der Typ, warf seine halbgerauchte Zigarette auf die Straße und verschwand wieder im Haus.

      Thomas sah auf den Schlüssel in seiner Hand. Was machte er da eigentlich? Was war denn nur