Das Präsidium. Ralf Schwob. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ralf Schwob
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783955424275
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in der Hand. Sie löste geschickt das Haargummi an ihrem Hinterkopf und schüttelte die halblangen blonden Haare. Ihre Wangen waren immer noch gerötet. Thomas sah, wie sich ihre kleinen straffen Brüste unter dem engen Funktionsshirt abzeichneten, als sie sich zu ihm drehte.

      »Du denkst dran, dass wir morgen Abend verabredet sind?«

      »Ja, klar, tut mir leid, Steffen war mal wieder ...«

      »Alles gut, immer noch besser, als mit dir hier allein herumzuhocken.«

      Thomas holte Luft, um etwas zu entgegen, aber dann fiel ihm nichts ein, was er darauf hätte sagen können.

      »Ich gehe duschen«, sagte Petra, mehr zu sich selbst als zu ihm, und ging nach oben.

      Thomas sah auf die Uhr am Herd. Heute würde er zur Sicherheit zwei Züge später nehmen. Nach dem Duschen würde Petra sich in ihr kleines Büro unterm Dach zurückziehen, wo sie sich um die Buchhaltung ihrer Kunden kümmerte, sie hatte sich vor kurzem selbstständig gemacht und suchte noch nach Auftraggebern. Bis jetzt hatte sie lediglich eine kleine Buchhandlung, eine freiberufliche Kosmetikerin und einen Homöopathen als Kunden, die ihr alle persönlich bekannt waren und daher Vorzugspreise bekamen. Die Kosten für den Dachausbau waren damit auf absehbare Zeit jedenfalls nicht zu finanzieren. Thomas spürte ein Stechen in der Brust und schüttete den Rest des bitter gewordenen Kaffees in die Spüle.

      Die Vormittage in Frankfurt verbrachte er meist im Kino oder im Museum. Manchmal saß er auch stundenlang in einem Café und tat so, als lese er die Rundschau. Im Grunde aber tat er nichts, er ging irgendwo hin, saß herum und wunderte sich, wie schnell dabei die Zeit verging. Natürlich grübelte er. Manchmal meinte er, einen Ausweg aus seiner Lage gefunden zu haben, der sich aber stets als Hirngespinst entpuppte.

      An diesem Freitag machte er mal wieder einen langen Spaziergang die Mainpromenade entlang, überquerte den Holbeinsteg auf die Sachsenhäuser Seite des Mains und kaufte sich eine Karte fürs Städelmuseum, wo man sich bereits fieberhaft auf die große van Gogh-Ausstellung im Herbst vorbereitete. Er verbrachte zwei Stunden in der aktuellen Ausstellung und als er das Museum wieder verließ, hätte er nicht sagen können, was er gesehen hatte. Sein Kopf war prallvoll und vollkommen leer zugleich. In seinem dunklen Anzug, der gestreiften Krawatte und mit der weinroten schweinsledernen Dokumententasche kam er sich mittlerweile wie verkleidet vor. Er war den Pennern und Junkies, die ihn im Bahnhofsviertel manchmal um Kleingeld anpumpten, doch schon näher als seinen alten Kollegen, deren bevorzugte Bistros und Restaurants er zur Lunchzeit geflissentlich mied.

      Ziellos wanderte er durch die Stadt und landete schließlich um die Mittagszeit in einer Pilsstube in der Elbestraße, die schon am Vormittag geöffnet hatte. Hierher würde sich garantiert niemand aus den Bankentürmen verirren.

      In dem engen, düsteren Gastraum roch es nach Zigaretten und abgestandener Luft. An der Theke saß eine aufgedunsene, grellgeschminkte Frau unbestimmten Alters vor einem leeren Cognacschwenker, sie hob kurz den Kopf, als Thomas hereinkam, und musterte ihn ungeniert. In der Ecke gegenüber saß ein mageres Männchen in einem ausgeleierten Trainingsanzug auf einem Barhocker und drückte scheinbar wahllos auf die Knöpfe eines Spielautomaten. Der Wirt hinter der Theke war ein kleiner Glatzkopf mit Hängebacken und einem verblassten Adler-Tattoo auf dem Hals.

      »Na? Gibste einen aus?«, fragte die Frau an der Theke und klopfte mit dem Fingernagel gegen ihr Glas.

      »Lasse emol den Mann in Ruh, Ellie, sonst fliegste raus!«, griff der Wirt sofort ein, bevor Thomas etwas entgegnen konnte.

      Die Angesprochene schnaubte und zündete sich eine Zigarette an. Der Mann am Spielautomat drehte sich kurz zu ihnen um und grinste, bevor er sich wieder den rotierenden Scheiben und blinkenden Lichter zuwandte. Der Automat begann eine Melodie zu spielen, dann stand alles still.

      »So ’ne Scheiße«, maulte der Mann und suchte in der Tasche seiner Jogginghose nach Kleingeld.

      Okay, dachte Thomas, das hier war dann doch noch ein wenig unter seinem Niveau, aber trotzdem setzte er sich. Ein Aschenbecher mit Kümmerling-Werbung war der einzige Schmuck auf der zerkratzten Tischplatte vor ihm. Er suchte den Blick des Wirts, der hinter den Tresen gebeugt gerade eine Lade mit gerippten Äppelwoi-Gläsern aus der dampfenden Spülmaschine hob.

      »Biersche odder liewer Äppler?«

      Thomas wollte eigentlich gar keinen Alkohol trinken, bestellte aber ein Pils. Der Wirt nickte, stellte die Gläser ab und begann mit dem Zapfen.

      Die Frau an der Theke murmelte etwas vor sich hin, der Spielautomat dudelte seine Melodien, das magere Männchen fluchte, von dem sonnigen Tag draußen bekam man hier drin nichts mit. Thomas fragte sich, was Petra wohl sagen würde, wenn sie ihn jetzt so sehen könnte. Und Benny. Oder Steffen ...

      »Zum Wohl.« Der Wirt stellte das große Bier auf den Tisch und sah ihn einen Moment aus seinen traurigen Augen an, dann schlurfte er zurück zum Tresen. Er wechselte ein paar Worte mit der Frau, die kurz darauf die Kneipe verließ.

      Thomas trank sein Bier. Mit jedem Schluck schmeckte es besser. Da er noch nichts gegessen hatte, spürte er fast augenblicklich den Alkohol, ein leichter Schwindel erfasste ihn, der nicht gänzlich unangenehm war. Der Mann am Spielautomat gab schließlich auf und rutschte vom Hocker. Er legte ein paar Münzen auf die Theke und ging. Jetzt war Thomas der einzige Gast.

      Als er sein Bier getrunken hatte, kam der Wirt an seinen Tisch, um das leere Glas abzuräumen. »Noch eins?«

      Thomas schüttelte den Kopf, bezahlte und fragte nach den Toiletten. Der Wirt steckte das Trinkgeld danklos ein und deutete mit dem Daumen hinter sich zu einem schmalen Durchgang.

      In dem gekachelten Flur roch es nach Klosteinen. An einem Ende des Ganges stand eine Tür offen, die auf einen Hinterhof hinausführte, am anderen befanden sich die Toiletten. Thomas öffnete die Tür der Herrentoilette und der Klosteingeruch steigerte sich derart, dass ihm fast schlecht wurde. Er fühlte sich taumelig und musste sich einen Moment an der Wand abstützen. Im Spiegel über dem Waschbecken sah er sein Gesicht, er hatte vergessen, sich heute Morgen zu rasieren. Er wollte einen Schluck Wasser trinken, ekelte sich aber vor dem verdreckten Wasserhahn. Zu allem Überfluss regte sich jetzt auch noch sein Darm.

      Gegenüber der Pissrinne gab es eine einzige Klokabine, deren Tür aber geschlossen war.

      Thomas drückte die Klinke herunter und war mit einem Schlag wieder vollkommen nüchtern.

      Der Mann, der mit heruntergelassener Hose auf der Toilette saß, richtete eine Pistole auf Thomas, er sah den Lauf direkt auf seine Körpermitte zielen, reflexartig hob er die Hände.

      »Nicht ... nicht schießen ... bitte ...«

      Der Mann gab ein Stöhnen von sich. Die Pistole in seiner Hand zitterte. Seine Jeans und die Unterhose lagen ihm als zerknautschter Haufen um die Knöchel. Mit der freien Hand fuhr sich der Mann über die Brust, er trug ein blutverkrustetes Poloshirt, auch seine Hände waren voller Blut.

      »Brauchen Sie Hilfe?«

      Der Mann verzog sein Gesicht, es sah fast so aus, als versuche er zu lachen. Er griff in die Brusttasche seines Shirts und holte etwas heraus, hielt es zwischen seinen Fingern, dann versuchte er, sich die Hosen hochzuziehen, kam aber, als er die Unterhose schon halb über dem Hintern hatte, ins Straucheln und stürzte zwischen Kabinenwand und Toilettenschüssel, die Waffe rutschte ihm aus der Hand und fiel auf den gefliesten Boden, der Kopf sank ihm auf die Schulter, dann lag er ganz ruhig.

      Thomas nahm langsam die Arme herunter. Er stand einen Moment vollkommen reglos. Durch das kleine geöffnete Fenster über dem Pissoir hörte er jemanden lachen, eine Autotür wurde zugeschlagen, ein Motor angelassen, dann war alles wieder still.

      Der Mann sah jetzt fast so aus, als würde er schlafen, nur der verdrehte Körper und die weit aufgerissenen Augen passten nicht dazu. Thomas hatte noch nie zuvor eine Leiche gesehen, aber er wusste, dass dieser Mann definitiv tot war. Er musste dem Wirt Bescheid sagen. Die Polizei rufen. Er würde als Zeuge vernommen und vielleicht sogar vor Gericht zitiert werden. Er würde ...

      Thomas sah sich um, er war ganz allein mit dem Toten.