Zu einer sachlichen Debatte gehört an dieser Stelle auch die Frage, welche finanziellen Auswirkungen für das Gemeinwesen eine Abschaffung der Kirchensteuer hätte. Regelmäßig wird von kirchlichen Verantwortungsträgern auf die vielen mit Kirchensteuern finanzierten Handlungsfelder hingewiesen, von denen auch die Gesamtgesellschaft erheblich profitiere. Und auch wenn manche Einrichtungen, wie zum Beispiel Kindergärten nur zu Teilen durch kirchliche Mittel und Eigenarbeit finanziert werden, so sei dies ohne Kirchensteuer nicht möglich. Der Staat selbst müsste in diesem Fall die Finanzierungslücke schließen und erhebliche zusätzliche Mittel einsetzen, so die Argumentation.
Bei einem Wegfall der Kirchensteuer würden die evangelische und katholische Kirche in Deutschland auf rund zwölf Milliarden Euro verzichten müssen: Einnahmen, die auch zur Förderung des Gemeinwesens eingesetzt werden. Hier ist insbesondere die diakonische bzw. caritative Arbeit der Kirchen als Träger von Kindertagesstätten, Sozialstationen, Seniorenheimen, Krankenhäusern und ähnlichen Einrichtungen zu nennen. Gemäß des im Grundgesetz verankerten Subsidiaritätsprinzips sollen soziale Aufgaben wenn möglich nicht durch den Staat selbst organisiert, sondern an freie Träger delegiert werden. Die Refinanzierung erfolgt dann durch staatliche Mittel. Die Kirchen – wie auch manche andere freie Träger – leisten aber zusätzlich eigene Finanzierungsanteile, die neben Zuschüssen aus Kirchensteuermitteln auch die kostenfreie Überlassung von Grundstücken und Gebäuden beinhalten kann. Dies wäre ohne Kirchensteuer in dieser Form nicht mehr leistbar.
Zur Wahrheit gehört allerdings ebenfalls, dass der Staat durch den Wegfall der Kirchensteuer mehr Einkommensteuern vereinnahmen würde: Die Kirchensteuer ist als Sonderausgabe bei der Einkommensteuerveranlagung abziehbar. Würde die Kirchensteuer wegfallen, müssten die bisher steuerzahlenden Kirchenmitglieder höhere Einkommensteuern abführen. Ausgehend von einer durchschnittlichen Kirchensteuerzahlung je kirchensteuerzahlendem Mitglied – das sind nur etwa die Hälfte aller Kirchenmitglieder – in Höhe von 500 Euro pro Jahr ergibt sich eine Einkommensteuerschuld von etwa 6.250 Euro. Damit wäre der weiteren Berechnung ein Grenzsteuersatz – also der Steuersatz mit dem die jeweils nächste Einheit der Steuerbemessungsgrundlage belastet wird – von etwa 32 Prozent zugrunde zu legen. Bei einem Wegfall der Kirchensteuer würde die Bemessungsgrundlage zur Berechnung der Einkommensteuer der steuerzahlenden Kirchenmitglieder um aktuell 12 Milliarden Euro höher ausfallen. Bei einem Grenzsteuersatz von 30 bis 35 Prozent entstünden nach dieser überschlägigen Berechnung für den Staat Mehreinnahmen aus der Einkommensteuer in Höhe von rund 4 Milliarden Euro.
Aber reichen diese 4 Milliarden Euro aus, um das Engagement der Kirchen zur Förderung des Gemeinwesens auszugleichen? Offensichtlich würde der Staat im Gegenzug die Gebühreneinnahmen aus der Kirchensteuererhebung verlieren, das sind je nach Bundesland zwischen 2 und 4 Prozent des Kirchensteueraufkommens. Aber wie hoch wären die staatlichen Mehrausgaben für bisherige subsidiäre Leistungen an die Kirchen? Welche kirchlichen Aktivitäten würden dem Gemeinwesen fehlen? Zur Beantwortung dieser Fragen müsste eine umfassende Analyse sämtlicher kirchlicher Haushalte mit ihren individuellen Schwerpunktsetzungen erfolgen. Dabei dürfen nicht lediglich die subsidiär mitfinanzierten Bereiche wie Diakonie und Caritas, Kindertagesstätten, Angebote für Kinder, (staatliche) Bildung und Religionsunterricht betrachtet werden. Mit den Kirchensteuereinnahmen werden beispielsweise auch das kulturelle Engagement der Kirchen, die Unterhaltung denkmalgeschützter und ortsbildprägender Gebäude sowie die Lebensbegleitung durch Seelsorgende in besonderen Situationen und vor Ort finanziert. Bei letzterer ist nicht nur an die institutionalisierten Einrichtungen der Telefon- und Notfallseelsorge, der Ehe-, Familien- und Lebensberatung oder an die individuelle Begleitung in Krisen oder bei Trauerfällen zu denken, sondern insbesondere auch an den durch Glauben und Kirche generierten ehrenamtlichen ‚Dienst am Nächsten‘ von vielen Gläubigen.
Kann dieses Engagement der Kirchen für Staat und Gesellschaft in Geld bemessen werden? Und wenn ja, wie hoch ist der Nutzen? Was, wenn dieses Engagement wegfiele? Die Kirchen müssen sich fragen, ob das nicht immer auf den ersten Blick sichtbare kirchliche Engagement von der Gesellschaft umfassend wahrgenommen wird und wie es gelingen kann, dieses Wahrnehmungsdefizit zu verringern.
MYTHOS 3: SPENDEN KÖNNEN KIRCHENSTEUERN ERSETZEN
Ohne Kirchensteuern müssten andere Formen der Kirchenfinanzierung erschlossen oder ausgebaut werden. Angesichts des projizierten Mitglieder- und Kirchensteuerrückgangs wird in beiden Kirchen betont, wie bedeutsam es ist, neue Finanzquellen zu erschließen. Dabei sind neben Vermögenserträgen insbesondere Spenden zu nennen.
Ein spendenbasiertes Finanzierungssystem nach angelsächsischem Modell sorgt – so die Erfahrungsberichte auf der örtlichen Ebene – für eine institutionalisierte und systematische Mitgliederorientierung und kann auch pastoralen Fortschritt initiieren. Dagegen besteht bei der Kirchensteuer die Gefahr, dass die Verantwortlichen sich auf diese gesicherte Einnahmequelle verlassen, sich quasi darauf ausruhen und dadurch den Blick für die gegenwärtigen und künftigen Bedürfnisse der Mitglieder und pastoralen Bedarfe vor Ort verlieren. Viele Diözesen und Landeskirchen investieren seit Jahren in Fundraising, also die professionelle Bündelung von Aktivitäten, um Menschen für die gemeinsame Verwirklichung eines Vorhabens zu begeistern und dafür Mittel einzuwerben. Das kann die Bestandspflege oder Renovierung der ortsbildprägenden Kirche genauso sein wie die Finanzierung von Stellenanteilen Mitarbeitender in Bereichen, für die ansonsten keine Mittel zur Verfügung stehen würden. Hier sind Kreativität und Entrepreneurship der Haupt- und Ehrenamtlichen gefragt. Pointiert ausgedrückt: Während Kirchensteuern die Kirchen saturieren, würde eine spendenfinanzierte Kirche zu Mitgliederorientierung und Innovation nötigen.
Was zunächst attraktiv klingt, birgt die Gefahr der Unterfinanzierung. Denn es kann infrage gestellt werden, ob es realistisch ist, durch Spenden das aktuelle Kirchensteueraufkommen im Umfang von 12 Milliarden Euro ersetzen oder zumindest annähernd ausgleichen zu können. Das gesamte Spendenaufkommen in Deutschland lag nach Erhebung des Marktforschungsinstituts GfK in den Jahren 2015 bis 2020 zwischen 5,1 und 5,5 Milliarden Euro. Ein Wegfall der Kirchensteuer würde zunächst einmal ein Volumen von 12 Milliarden Euro freisetzen. Angenommen die Hälfte dieser frei gewordenen Mittel würden gespendet werden, dann würde sich das Spendenaufkommen in Deutschland verdoppeln. Vom nicht gespendeten Teil des Kirchensteueraufkommens würde der Staat – wie bereits ausgeführt – durch Wegfall des Sonderausgabenabzugs profitieren. Wie hoch der Anteil der beiden großen christlichen Kirchen an diesem neu zu verteilenden Spendenaufkommen wäre, kann nur spekuliert werden. Zweierlei kann jedoch mit Sicherheit angenommen werden: Die zur Verfügung stehenden Einnahmen wären geringer als im jetzigen Kirchensteuersystem und die Spenden würden vermutlich stärker an die Gemeinden vor Ort fließen. Vor allem darf nicht übersehen werden, dass die Kirchen mit zahlreichen bereits seit Jahrzehnten professionell spendensammelnden Organisationen in Konkurrenz treten müssten. Das würde im Übrigen auch für eine Mandatssteuer gelten, wie sie beispielsweise in Italien von der gesamten steuerzahlenden Bevölkerung erhoben wird.
Zumindest dem Kritikpunkt der mangelnden Mitgliederorientierung und Innovationskraft des bisherigen Kirchensteuersystems könnte entgegengewirkt werden. Die Verteilung der Kirchensteuern – zumindest der Anteil für die örtliche Ebene – erfolgt derzeit über Zuweisungen in der Regel nach Mitgliederzahl, Gebäudebestand und ähnlichen wenig beeinflussbaren Kennzahlen. Die Zahl der Taufen, Trauungen oder Bestattungen oder gar der Saldo aus Kircheneintritten und -austritten spielt bislang keine Rolle. Um Mitgliederorientierung und Innovationskraft zu fördern, könnte zumindest ein Teil der zu verteilenden Kirchensteuermittel an Entwicklungen gekoppelt werden, die grundsätzlich beeinflussbar sind. Selbstverständlich müssten dabei die absoluten Zahlen in Relation gesetzt werden; zum Beispiel die Zahl der Taufen zur Zahl der Geburten (Taufquote) oder Bestattungen zu Todesfällen von Kirchenmitgliedern (Bestattungsquote). Gleiches gilt auch für die Ein- und Austrittsquote, also das Verhältnis von Ein- und Austritten, die zur Anzahl der Kirchenmitglieder – eventuell sogar getrennt nach Altersgruppen und Geschlecht – ins Verhältnis gesetzt werden. Die Beobachtung dieser Größen hilft zu identifizieren, wo sich einzelne Kirchengemeinden günstiger entwickeln als die im jeweiligen Dekanat oder im Vergleich zu anderen Stadt- oder Landgemeinden. Wenn zumindest ein Teil