Nun, das war ja eine größere Auswahl, als sie erwartet hatte. Sie nickte ihm zu und erwiderte: „Danke.“
Cooper sah enttäuscht aus, vielleicht, weil ihrer Frage keine Aufforderung zum Mitkommen folgte. „Aber bitte, gerne.“
Er hatte bestimmt gedacht, sie würde ihn bitten, sie zu begleiten. Vielleicht ein anderes Mal, aber heute hatte sie keine Lust auf Gesellschaft. Sie brauchte Zeit, um alles zu verarbeiten und einen Plan zu entwerfen. Sie wandte sich wieder der Treppe zu und stieg nach oben. Jeder Schritt brachte sie näher zu dem Zimmer, das für die nächsten Wochen ihr Zuhause sein würde. Bisher nahm dieser Urlaub den Spitzenplatz auf der Liste ihrer Lieblingsorte ein, an denen sie je gewesen war. Sie hoffte nur, dass er all ihren Erwartungen entsprechen würde.
KAPITEL ZWEI
Amethyst stieg die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Cooper konnte nicht wegsehen, selbst wenn er es versucht hätte. Es sandte ein stilles Dankgebet an seinen Schutzengel, der sie in seine Familienpension geführt hatte. Noch nie war eine so reizvolle Frau in der Pension abgestiegen. Ihr vertrautes Gesicht hatte ihn zuerst sprachlos gemacht und er musste seine ganze seine Beherrschung aufbringen, um wieder reden zu können. Als er das erste Mal aufgeblickt und sie gesehen hatte, war sein erster Gedanke, dass er sich diese Frau nur einbildete. Sie hatte herrliche Mitternachtslocken, die ihr über die Schultern fielen. Ihre durchdringenden olivgrünen Augen fesselten ihn sekundenlang. Während er sie betrachtete, fragte er sich, ob es in seiner Pension tatsächlich spukte, wie das einheimische Überlieferungen behaupteten. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er der Sprache wieder mächtig war. Er war entzückt festzustellen, dass diese Frau wirklich in Fleisch und Blut vor ihm stand und kein Produkt seiner Fantasie war. Sie wies eine unglaubliche Ähnlichkeit mit einer Person auf, von der jeder glaubte, dass sie vor vielen Jahren gestorben sei. Amethyst Keane war ein Rätsel und er beabsichtigte, alle ihre Geheimnisse zu lüften. Zum Glück würde sie einige Wochen im Dorf bleiben, das gab ihm die nötige Zeit, alles über sie herauszufinden.
Die Tür zur Pension flog auf. Cooper blickte hoch und sah seinen besten Freund Benjamin Anderson hereinkommen. Sie waren beide Einheimische und hatten die 21 Jahre ihres Lebens in North Point verbracht. Ihnen wurde auch beiden ein Teil des jeweiligen Familiengeschäfts übertragen. Sie hatten keine College-Ausbildung. Aufgrund der Erwartungen ihrer Familien waren solche Zusatzausgaben unnötig. Trotzdem hatte Cooper an einigen Business-Online-Kursen teilgenommen. Wie konnte sonst von ihm erwartet werden, dass er ohne wirkliche Kenntnisse eine profitable Pension betrieb? Seine Familie verließ sich zu sehr darauf, dass er den täglichen Betrieb schon in Schwung hielt. Sein Freund befand sich in einer ähnlichen Situation, hatte aber nie Anzeichen von Interesse an einer Weiterbildung gezeigt.
Ben schlenderte auf das Empfangsspult zu und stützte sich auf. „He, Coop, kannst du hier weg? Wir könnten mit dem Boot rausfahren.“
Cooper schüttete den Kopf. „Würde ich gern, aber ich habe hier zu viel zu tun. Olivia hat heute frei, also bin ich den ganzen Nachmittag im Einsatz. Vielleicht können wir das morgen machen. Du weißt ja, mein Vater kommt nicht mehr oft bis hierher zur Pension.“
Benjamin runzelte die Stirn, dann meinte er: „Verdammt, das ist echt schade. Es hätte Spaß gemacht. Ich habe in diesem Jahr noch keine Chance gehabt, das Boot zu nutzen. Die Arbeit war mörderisch. Jetzt habe ich endlich mal einen freien Nachmittag und mein bester Kumpel lässt mich hängen.“
Bens Familie gehörte die einzige Baufirma des Dorfes. Es verging kein einziger Tag ohne Aufträge, die nur so hereinströmten und erledigt werden mussten. Monate oder Jahreszeiten spielten keine Rolle, weil in der Umgebung so viel Arbeit anfiel. Die Aufträge waren so zahlreich, dass sie oft Probleme hatten, Schritt zu halten. Zum Glück hatte Anderson Construction mehrere Angestellte, die halfen, das Arbeitspensum zu bewältigen. Ben war der jüngste von fünf Brüdern, jeder von ihnen hatte eine Stellung in der Baufirma. Als Nesthäkchen der Familie verhielt sich Ben jedoch manchmal wie ein leicht verzogenes Kind.
Cooper und Ben waren Freunde seit Kindergartenzeiten. Cooper hatte sich so sehr an Bens narzisstische Persönlichkeit gewöhnt, dass er sie gar nicht mehr wahrnahm. Ben verkörperte die Aussage: Ich und perfekt? Aber sicher! Kommt gefälligst klar damit. Ben fand trotz der Arbeit immer freie Zeit, um abzuschalten. Cooper konnte es ihm kaum übelnehmen. Sie waren jung und sollten auch ein bisschen Zeit für Spaß haben. In dieser Sommerperiode brauchte Ben mit Sicherheit etwas Auszeit. Zu dieser Jahreszeit war am meisten los …
Aber Cooper trug Verantwortung und konnte sich nicht einfach „verziehen“, um abzuhängen, wie Ben das mal so prägnant formuliert hatte. Es gab niemanden, der für ihn einsprang, wenn er nicht in der Pension war. Zeit mit seinem Freund auf dem See zu verbringen klang wunderbar, aber es war einfach nicht zu machen. Egal, wie sehr Ben drängte, nichts änderte die Tatsache, dass er als Einziger in der Pension anwesend war, um sich um die Gäste zu kümmern. Er war nicht einmal sicher, ob er mitkommen würde, selbst wenn er könnte. Nicht, wenn Amethyst Keane eine der neuesten Hausgäste war. Sie hatte sich zu einer fixen Idee entwickelt und er wollte zur Verfügung stehen, falls sie beschloss, sein Angebot anzunehmen. „Ich wollte, ich könnte mitkommen.“ Er warf Ben sein nettesten, aber bedauerndes Lächeln zu. „Ich habe einfach zu viel zu tun.“
„Wann sind wir eigentlich so erwachsen und wie unsere Väter geworden?“ fragte Ben mit Abscheu in der Stimme.
„Gleich nach der High-School – und wir haben uns sogar kopfüber hineingestürzt.“ Cooper lachte leise. Das Lachen musste sein, sonst würde er nachgeben. Er hasste sein Leben nicht, es war einfach so, dass … er manchmal wünschte, er hätte andere Möglichkeiten.
Ben schüttelte angewidert den Kopf. „Wir sind einundzwanzig Jahre und mir geht es so, als hätten wir diese Stadt und die Erwartungen an uns total verinnerlicht. Ich denke ans Aufhören.“
„Nein, das geht nicht. Ohne dich wäre es hier nicht mehr dasselbe.“ Aus den Augenwinkeln nahm Cooper eine Bewegung wahr und wandte sich um, er wollte sehen, was los war.
Amethyst kam mit einem kleinen Tragebeutel die Treppe herunter. Ihre ebenholzschwarzen Locken waren zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, ein paar Strähnen hingen hinten heraus. Sie hatte eine Sonnenbrille auf den Kopf geschoben und trug schneeweiße Shorts zu einem grünen Top, das exakt dieselbe Farbe wie ihre Augen hatte. Sie sah Ben und Cooper und lächelte. Ben war von ihrem charmanten Grinsen genauso hingerissen wie Cooper, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Amethyst war merkte es zwar nicht, aber die beiden waren bereits Wachs in ihren Händen. Cooper richtete sich neben dem Empfangspult sehr gerade auf und als sie näherkam fragte er: „Machst du dich auf den Weg, unser schönes Dorf zu erkunden?“
„Oh ja, ich kann es kaum erwarten, alle Geheimnisse zu entdecken.“ Amethyst nickte begeistert.
Cooper grinste, dann sagte er: „Ist das alles? Na, dann wirst du in etwa fünf Minuten wieder da sein. Richtig, Ben?“
Ben hatte vor Überraschung einen ganz glasigen Blick. Wenn Cooper es nicht besser wüsste, würde er denken, sein Freund hätte noch nie zuvor eine schöne Frau gesehen. Er hatte große Lust, ihm einen Schlag auf den Kopf zu versetzen. Vielleicht sollte er diesem Drang ja nachgeben …
„Was?“ Bens starrte Amethyst weiterhin völlig überwältigt an.
Cooper schüttelte ungläubig den Kopf. Sobald Amethyst weg war, wollte er ein ausführliches Gespräch mit seinem besten Kumpel führen. Es kam überhaupt nicht in Frage, ihm zu erlauben, in einen Bereich einzudringen, den er als sein Revier betrachtete, bester Freund oder nicht. Er hätte gern mit der Faust auf das Pult geschlagen und kindisch geschrien: „Besetzt!“ Er fand Amethyst wirklich nett und wollte nicht, dass Ben ihm jede Chance ruinierte, sie besser kennenzulernen. Jetzt würde er Ben erstmal aus seinem Schwebezustand reißen und das aktuelle Gesprächsthema erläutern.
„Es geht um Dorfgeheimnisse. Die aufzudecken sollte nicht lange dauern.“ Er sprach langsam und deutlich, damit seine Worte in das umnebelte Gehirn seines Kumpels eindringen