Systemtheorie III: Steuerungstheorie. Helmut Willke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helmut Willke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783846341223
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gegen diese wohldurchdachten und ernstzunehmenden Ideen zur Revision des Steuerungsmodell Demokratie ist, dass beide Autoren die Wirkung des einen Faktors unterschätzen, der wie kein zweiter die Problematik der Steuerung moderner Gesellschaften prägt: funktionale Differenzierung. Die Radikalisierung der »gesellschaftlichen Arbeitsteilung« zur funktionalen Autonomie und zur operativen Geschlossenheit der gesellschaftlichen Teilsysteme erzeugt erst die zentrifugale Dynamik, der die westlichen Demokratien auch nicht durch den Rückgriff auf gesunden Menschenverstand und Moral entrinnen können. Im Gegenteil: Um die eigensinnigen Funktionssysteme und die sie prägenden Organisationen und Assoziationen dazu zu bringen, miteinander zu kommunizieren, bedarf es nicht nur einer elaborierten Verhandlungslogik und voraussetzungsvoller Fähigkeiten des kollektiven und strategischen Handelns (Elster 1987, Kap. 1.4). Darüber hinaus ist genau das nötig, was den gesunden Menschenverstand ebenso überfordert wie eine auf die eigene »community« bezogene Binnenmoral – nämlich die Fähigkeit zur Reflexion des Teils auf die Bedingungen der Möglichkeit des Ganzen.

      In der politischen Praxis vor allem der west- und nordeuropäischen Demokratien entwickelte sich in den 1970er-Jahren als Reaktion auf zunehmende Probleme der Regierbarkeit eine Form der kollektiven Entscheidungsfindung und Interessenmediatisierung, die in der wissenschaftlichen Diskussion unter dem Titel Neokorporatismus Aufmerksamkeit fand. Praxis und Theorie des Neokorporatismus sind für eine Steuerungstheorie moderner Gesellschaften aufschlussreich, weil sie als Versuch verstanden werden können, in einem gesellschaftlichen Großexperiment die Grenzen des politischen bzw. parlamentarischen Demokratiemodells neu zu definieren. Im Kern ging es (und geht es nach wie vor) darum, eine Form des Demokratiemodells zu erfinden, die den Ursprung des Modells in der vom Primat der Schichtendifferenzierung geprägten liberalen, bürgerlichen Gesellschaft des späten 18. und 19. Jahrhunderts aufhebt in einer Revision, welche die humanen und emanzipatorischen Errungenschaften der demokratischen Revolutionen bewahrt und zugleich den Weg für eine Berücksichtigung der Folgen funktionaler Differenzierung freigibt.

      Eine besonders massive Folge ist die Multiplizierung, Pluralisierung und Dezentrierung von Machtbasen in unterschiedlichsten organisierten Sozialsystemen (Organisationen, Professionen, Assoziationen, Korporationen, Netzwerken etc.) innerhalb einer Gesellschaft. Die Politik als ihrerseits ausdifferenziertes Teilsystem mit der Funktion, für die Gesellschaft insgesamt die erforderlichen kollektiv verbindlichen Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, kann nicht einmal mehr hoffen, diese Aufgabe ohne die Beteiligung der großen Quasi-Gruppen und ihrer korporativen Akteure[52] lösen zu können (Mayntz 1993, S. 42). Gerade in Politikfeldern, in denen sich machtvolle autonome Verbände herausgebildet haben, nämlich in der Wirtschafts-, Gesundheits-, Sozial-, Wissenschafts-, Energie- oder Verkehrspolitik, kann von einer unabhängigen Entscheidungskompetenz der Politik keine Rede sein. Gewerkschaften, Unternehmerverbände, Krankenkassen, Ärzteverbände, Krankenhausträger, Wohlfahrtsverbände, Wissenschaftsvereinigungen, Automobilklubs, regionale Energieverbände etc. sind Beispiele für eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteure, die nicht zum engeren Bereich der Politik gehören – und ohne deren Beteiligung in den entsprechenden Politikfeldern dennoch keine nachhaltige Politik gemacht werden kann.

      Idee und Praxis des Neokorporatismus kommt hier das Verdienst zu, die gesellschaftsgeschichtlich allmählich gewachsene Struktur der Interessenmediatisierung in komplexen, hochorganisierten Gesellschaften ans Tageslicht gebracht und einer demokratietheoretischen Überprüfung zugänglich gemacht zu haben (Schmitter 1983). Sie haben eine Praxis, die lange als Pluralismus, Politikberatung, »pressure-group-politics«, Verbändepolitik etc. verbrämt wurde, aus dem demokratischen Halbdunkel gezerrt und die Frage unabweisbar gemacht, ob Demokratie als Steuerungsmodell einer komplexen Organisationsgesellschaft haltbar ist oder nicht.

      Wie nicht anders zu erwarten, sind die Antworten auf diese Frage sehr unterschiedlich ausgefallen (Czada u. a. 1993; Lehmbruch 1984; Lehmbruch 1979; Nollert 1992; Willke 1983, bes. Kap. 4.2). Bei aller Heterogenität lassen sich folgende Einsichten festhalten:

      1 Die Wahrscheinlichkeit gelingender Gesellschaftssteuerung durch Konzertierung der betroffenen Interessen in neokorporatistischen Verhandlungssystemen ist in Verhandlungsdemokratien höher als in Demokratien mit polarisierendem Mehrheitswahlrecht, also z. B. in der Schweiz, Deutschland, Niederlanden oder Österreich höher als in Großbritannien, Neuseeland oder Frankreich (Schmidt 1993, S. 385).

      2 Die auffälligsten Ausnahmen von dieser Regel sind die USA und Japan. Aufgrund ihrer zersplitterten politischen Struktur sind die USA trotz eines ausgeprägten Mehrheitswahlrechts auf Verhandlungen angewiesen – aber es fehlen hochorganisierte Verbände vor allem in den wirtschafts- und sozialpolitischen Politikfeldern, welche die Notwendigkeit einer Konzertierung erzwingen könnten. Japan dagegen ist trotz eines Mehrheitswahlrechts aufgrund seiner kulturellen Tradition durchgehend auf Konzertierung ausgerichtet. Es hat denn auch in den 1970er-Jahren die deutlichsten technologie- und wirtschaftspolitischen Erfolge einer konzertierten Gesellschaftssteuerung aufweisen können.

      3 Die Hauptschwierigkeit einer Stabilisierung sozietaler Verhandlungssysteme in den neokorporatistischen Ländern liegt darin, Asymmetrien in[53] den Kosten-Nutzen-Relationen der involvierten Verbände und Korporationen zu vermeiden. Einige Akteure verfügen über mehr Drohpotenzial und Vetomacht als andere, was eine angemessene (d. h. gesamtsystemisch optimale) Kompromissbildung erschwert.

      4 Der massivste Druck auf entwickelte Demokratien, ihre Formen der Entscheidungsfindung, Konzertierung und Steuerung zu überdenken, kommt nicht mehr von innen, sondern von außen – von einem schärferen und folgenreicheren internationalen Wettbewerb der nationalen wissenschaftlich-technologischen, wirtschaftspolitischen und sozialpolitischen Steuerungsmodelle, einschließlich ihrer Infrastruktursysteme der zweiten Generation (Datensuperhighways, neue Verkehrsleitsysteme, neue Energieleitsysteme, neue Fortbildungssysteme).

      5 Dieser Druck führt gegenwärtig dazu, dass die noch relativ vereinzelten neokorporatistischen Verhandlungssysteme (konzertierte Aktionen, Sozialräte, runde Tische) in ein allgemeineres Modell der Verhandlungsdemokratie überführt werden. An diesem Punkt steht in Praxis und Theorie eine Revision des Steuerungsmodells der politischen Demokratie zur Debatte, weil inzwischen die Evidenz überwältigend scheint, dass die Koordinationsleistung der repräsentativen-parlamentarischen Demokratie für die Bedarfe hochkomplexer, differenzierter Gesellschaften suboptimal geworden ist.

      Ich werde auf das Problem der Verhandlungssysteme in Abschnitt 4.1 ausführlicher eingehen. Zunächst möchte ich das zweite große Modell der Steuerung komplexer Systeme diskutieren, das Modell der Hierarchie. Erst wenn wir die Steuerungsproblematiken beider Großmodelle, Demokratie und Hierarchie, umrissen haben, können wir daran gehen, die Idee der Verhandlungssysteme als mögliches alternatives Modell der Steuerung komplexer, funktional differenzierter Sozialsysteme eingehender zu prüfen.

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