Systemtheorie III: Steuerungstheorie. Helmut Willke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helmut Willke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783846341223
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Lösungen in Aussicht stellen.

      Tatsächlich spielt Lindbloms dritte Steuerungsform neben Macht und Markt gerade bei den genannten Problemen eine besondere Rolle. Die Bildung neuer individueller und kollektiver Verhaltensweisen ist einerseits unabdingbare Voraussetzung für nachhaltige Problemlösungsstrategien; andererseits wissen wir inzwischen aus Erfahrung, dass sich die erforderlichen Verhaltensänderungen weder befehlen noch kaufen lassen. Aufklärung und Erziehung sind deshalb notwendige zusätzliche Steuerungsformen, auch wenn längst nicht klar ist, wie dieses »people processing« wirksam gestaltet werden könnte, ohne die betroffenen Personen – und das sind in der Regel wir alle – zu Schulkindern zu degradieren. Die meisten staatlichen Aufklärungskampagnen sind eher abschreckende Beispiele. Andererseits gibt es[41] ermutigende Beispiele für erfolgreiche Lernprozesse in Teilbereichen des Umweltschutzes, der Abfallvermeidung, des Umgangs mit Aids, des Schutzes von Nichtrauchern etc. besonders dann, wenn die Kampagnen von privaten Organisationen und Betroffenengruppen getragen werden.

      Vielleicht ist es der wichtigste Beitrag Lindbloms zum Projekt der Revision der Demokratie, dass er die beengende Alternative von Markt und Staat aufgebrochen und mit der Vision eines durch präzeptorale Elemente durchsetzten Systems angereichert hat. Nach vielen desillusionierenden Erfahrungen kann man heute wissen, dass alle bislang vorgeschlagenen »dritten Wege«, einschließlich Lindbloms präzeptoralem Regime, konzeptionell zu einfach angesetzt und gerade in weniger entwickelten Gesellschaften praktisch chancenlos waren. Eine Anreicherung der Demokratie setzt wohl eine bereits hochentwickelte Form von Demokratie voraus – eine Bedingung, die in China, Kuba oder Jugoslawien nicht gegeben war.

      Theoretisch gesehen, ist selbst in hochentwickelten Demokratien ein Erfolg präzeptoraler Elemente unwahrscheinlich, weil die Schwierigkeiten der verändernden Intervention in komplexe personale oder soziale Systeme sehr viel grundsätzlicher sind, als bislang angenommen. Erst auf dem Hintergrund einer elaborierten Systemtheorie, Kommunikationstheorie, Theorie der Beobachtung und einer Interventionstheorie lässt sich begreifen, wie voraussetzungsvoll gelingende Intervention ist – und mithin, wie schwierig die kontrollierte Veränderung sozialer Systeme.

      Auch Etzioni schlägt eine Weiterentwicklung des Steuerungsmodells moderner Gesellschaften vor, um über die Beschränkungen der gegenwärtigen Form von Demokratie hinaus zu gelangen. Nicht zufällig zielt sein Vorschlag in eine ähnliche Richtung wie der Lindblom’sche, auch wenn er ein anderes Begriffsinstrumentarium verwendet. Sein Ausgangspunkt ist die Unterscheidung zweier Arten von Ressourcen der Systemsteuerung, Konsens und Kontrolle. Konsens erzeugt die Art von Kohäsion und Zusammenhang, die eher passive Sozialsysteme des Typs Gruppe und Gemeinschaft kennzeichnen, während Kontrolle das Hauptmerkmal eher aktiver und zielorientierter Sozialsysteme wie Organisationen und staatlicher Einheiten ist. Allerdings, so Amitai Etzioni, verfügen alle konkreten Sozialsysteme über beide Momente in unterschiedlichen Gewichtungen, so dass ein bestimmtes System im Laufe seiner Entwicklung unterschiedliche Mischverhältnisse ausbilden und so auch unterschiedliche Identitäten annehmen kann:

      »Societal units may be thus viewed in terms of a ›two-dimensional activeness space‹. They may be characterized as commanding varying degrees of controlling and consensus-forming capacities. Above all, it is important to note that there is no necessary contradiction between cohesive units[42] and control networks; both are important for increasing the societal capacity to act, and active units command both cohesive and control elements« (Etzioni 1971, S. 109).

      Etzioni überträgt diese Grundidee auf ganze Gesellschaften und kommt, je nach Mischungsverhältnis von Konsens- und Kontrollkapazitäten, zu vier idealtypischen Ausprägungen von gesellschaftlichen Systemen der Selbststeuerung (siehe Tabelle 2.1).

      »To start with an elementary classification derived from the basic components of societal guidance, four types of societies suggest themselves: (1) those low in both control and consensus-building, passive societies, a type approximated by many underdeveloped nations; (2) those whose control capacities are less deficient than their consensus-building mechanisms, overmanaged societies, a type approximated by totalitarian states; (3) those whose consensus-building is less deficient than their control capacities, drifting societies, a type approximated by capitalistic democratic societies; (4) and societies effective in both realms, active societies, a type which is a ›future system‹ or societal design« (Etzioni 1971, S. 466).

      Bemerkenswert ist die Einordnung gegenwärtiger demokratischer Industriegesellschaften als dahintreibend. Diese frühe Diagnose Etzionis, die vor allem vom Bild der USA geprägt und auf diese bezogen war, ist auch heute keineswegs überholt. Alle westlichen Demokratien haben sich von ihren je gegenwärtigen Problemen treiben lassen und ihre Zuflucht in kurzfristigem Krisenmanagement gesucht. Wäre der Gewöhnungseffekt nicht so massiv, so müssten wir entsetzt sein über die Steuerungsleistung moderner Demokratien: Sie schieben ein Millionenheer von Arbeitslosen vor sich her und Schuldenberge, die jedes Vorstellungsvermögen übersteigen; sie vergeuden knappe Ressourcen, als gäbe es kein Morgen und vernachlässigen Zukunftsinvestitionen, als gäbe es keine nächsten Generationen. Sie lassen sich von der Rücksicht auf den nächsten Wahltermin beherrschen und missverstehen diese Borniertheit als Herrschaft des Volkes. Sie unterwerfen sich Technologien – Beispiele: Autoverkehr, Energieerzeugung oder das globale Schattenbankensystem –, die den Verwertungsinteressen privater Anleger entsprechen, ohne die sozialen Auswirkungen, Folgekosten, Risiken und mögliche Alternativen ernsthaft zu prüfen.

Kontrolle Konsensschwachstark
schwachpassivübersteuert
starkdahintreibendaktiv

      [43]Die gesellschaftliche Steuerungsleistung politischer Demokratie ist bewundernswert, vergleicht man sie mit derjenigen anderer real existierender politischer Formen. Aber sie ist miserabel, sobald man sich von diesem bequemen Maßstab löst. Gemessen an ihren selbsterzeugten Problemen gleicht politische Demokratie mit fortschreitender Entwicklungsdynamik moderner Gesellschaften einem Kamikazeunternehmen. Solange es möglich war, alle internen Widersprüche politischer Demokratie mit Verweis auf abschreckende Alternativen (und äußere Bedrohung) zu überspielen, war auch die Legitimität des Projekts nahezu selbstverständlich. Aber diese Automatik hat sich mit der Implosion des Sozialismus und der Explosion der sozialen und ökologischen Probleme moderner Demokratien überlebt (Rosenau 1999). Entweder die Demokratie als Steuerungsmodell korrigiert ihren Kurs oder sie gerät in Gefahr abzustürzen.

      Die von Etzioni vorgeschlagene Kurskorrektur geht denn auch genau in Richtung einer verbesserten Fähigkeit zu Selbststeuerung. Sie soll dadurch erreicht werden, dass gegenüber den (weniger defizienten) Mechanismen der Konsensbildung »von unten nach oben« verstärkt Instrumente und Netzwerke der Kontrolle und Steuerung »von oben nach unten« etabliert werden. Etzioni hält es für geboten, die Regierungsfähigkeit demokratischer Systeme zu verbessern, weil ansonsten die in repräsentativen systemischen Kommunikationen formulierten Programme, Projekte oder gar Visionen keine Chance auf eine Realisierung haben. Eine zu stark gewichtete Konsens-Komponente überflutet das System mit Ansprüchen, Anforderungen, partikularen Interessen, Einzelvorhaben, Gruppenegoismen etc., ohne dass komplementäre Möglichkeiten bereitstünden, die Anspruchsinflation durch eine Konfrontation mit den Restriktionen der Durchführung und der Systemverträglichkeit zu dämpfen – Restriktionen wie zum Beispiel Durchsetzungsprobleme, Kosten, Widersprüche zwischen Programmen, mittelfristige Folgen für soziale, sozietale und ökologische Zusammenhänge.

      Selbstverständlich kann eine einfache Vier-Felder Schematik (Etzioni) oder ein Drei-Formen-Modell (Lindblom) nicht die Problematik und die Tragweite einer Revision des Demokratiemodells einfangen. Sie können aber vielversprechende Richtungen aufzeigen und eingefahrene Alternativen – wie die zwischen Markt und Staat, zwischen Konsens und Kontrolle – überwinden[44] helfen. Die wichtigste Leistung beider Modelle scheint mir deshalb darin zu bestehen, Visionen einer »besseren« Demokratie zu entwerfen. Beide Autoren haben ein feines