Theologiegeschichtlich sind im Rahmen dieser Entwicklung vor allem die Unterscheidung zwischen Heiliger Schrift und Wort Gottes durch J. S. Semler, die Entgegensetzung von ewigen Vernunftwahrheiten und zufälligen Geschichtswahrheiten durch G. E. Lessing und die von J. Ph. Gabler durchgeführte Trennung von »biblischer« und »dogmatischer« Theologie wirksam geworden.
Der Hallenser Theologe JOHANN SALOMO SEMLER (1725–1791) unterzog das Neue Testament einer streng historischen Fragestellung und unterschied dabei zwischen Wort Gottes und Heiliger Schrift, weil es in der Heiligen Schrift Abschnitte gibt, die nur in der Vergangenheit von Bedeutung waren und heute dem Menschen nicht mehr zur ‚moralischen Aufbesserung‘ dienen. »Heilige Schrift und Wort Gottes ist gar sehr zu unterscheiden, weil wir den Unterschied kennen; hat man ihn vorher nicht eingesehen, so ist ja dies kein Verbot, das es uns untersagte. Zu der heiligen Schrift, wie dieser historische, relative terminus unter den Juden aufgekommen ist, gehört Ruth, Esther, Hohelied etc., aber zum Worte Gottes, das alle Menschen in aller Zeit weise macht zur Seligkeit, gehörten diese heilig genannten Bücher nicht alle.«1 Die Unterscheidung zwischen Wort Gottes und Heiliger Schrift wurde zum Prinzip einer neuen Hermeneutik, welche die Lehre von der Verbalinspiration gänzlich entwertete und ein innerbiblisches Scheidungsverfahren in Gang setzte, dem als Kriterium für die Unterscheidung zwischen dem bleibenden Wort Gottes und dem Historisch-Relativen die moralische Besserung des Menschen diente. »Da wir durch alle 24 Bücher des Alten Testaments nicht moralisch gebessert werden, so können wir uns auch von ihrer Göttlichkeit nicht überzeugen.«2 Semlers Gleichsetzung von »göttlich« und »moralischer Besserung« hatte somit eine Trennung zwischen Altem und Neuem Testament zur Folge. Ebenfalls bedeutsam war eine zweite Unterscheidung Semlers, die zwischen Religion und Theologie. Während mit dem Ausdruck ‚Religion‘ die von allen Christen zu übende rechte Frömmigkeit gemeint ist, versteht Semler unter ‚Theologie‘ die zur fachlichen Ausbildung der Theologen notwendigen wissenschaftlichen Methoden. Damit gewinnt er einen zu seiner Zeit keineswegs üblichen Freiraum für kritische wissenschaftliche Arbeit, deren Methoden und Ergebnisse die von allen auszuübende Religion grundsätzlich nicht in Frage stellen.
Dem Problem ‚Vernunft und Offenbarung‘ stellte sich in unbestechlicher Schärfe der Dichter und Philosoph GOTTHOLD EPHRAIM LESSING (1729–1781). In dem Essay »Vom Beweis des Geistes und der Kraft« (vgl. 1Kor 2,4) betont Lessing, »daß Nachrichten von erfüllten Weissagungen nicht erfüllte Weissagungen, daß Nachrichten von Wundern nicht Wunder sind«3. Was Menschen vor 1800 Jahren unmittelbar zum Glauben veranlasste, kann heute auf die bloße Nachricht hin nicht in gleicher Weise zum Glauben führen. »Wenn keine historische Wahrheit demonstriert werden kann, so kann auch nichts durch historische Wahrheiten demonstriert werden. Das ist: Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden.«4 Damit leugnet Lessing nicht die Wahrheit des christlichen Glaubens und wendet sich nicht gegen die Offenbarung, sondern gegen die Beweismittel, die man für sie anführt: Weissagungen und Wunder. Er kämpft gegen die ‚Bibliolatrie‘, gegen die Herrschaft des inspirierten Buchstabens, die den ‚garstigen Graben‘ zwischen uns und den biblischen Schriften nicht wahrhaben will. Lessings Unterscheidung von Religion und Bibel, wonach die notwendigen Vernunftswahrheiten (natürliche Theologie) der Religion, die zufälligen Geschichtswahrheiten hingegen der Bibel zuzuordnen sind, wird in der »Erziehung des Menschengeschlechtes« (1780) ins Positive gewendet. Die Bibel erhält ihren Platz in der notwendigen Entwicklung von der Offenbarung zur Vernunft. Die biblischen Geschichtswahrheiten werden in den universalen Prozess einer zielgerichteten göttlichen Pädagogik eingebettet, an dessen Ende ein neues ewiges Evangelium stehen wird, das im Neuen Testament selbst verheißen ist und wonach der Mensch durch seine Vernunft das Gute um des Guten willen tun wird.
Von großer Bedeutung war die Unterscheidung zwischen biblischer Theologie und dogmatischer Theologie durch JOHANN PHILIPP GABLER (1753–1826). »Die biblische Theologie besitzt historischen Charakter, überliefernd, was die heiligen Schriftsteller über die göttlichen Dinge gedacht haben; die Dogmatische Theologie dagegen besitzt didaktischen Charakter, lehrend, was jeder Theologe kraft seiner Fähigkeit oder gemäß dem Zeitumstand, dem Zeitalter, dem Orte, der Sekte, der Schule und anderen ähnlichen Dingen dieser Art über die göttlichen Dinge philosophierte. Jene, da sie historisch argumentiert, ist, für sich betrachtet, sich immer gleich (obwohl sie selbst, je nach dem Lehrsystem, nach dem sie ausgearbeitet wurde, von den einen so, von den anderen anders dargestellt wird): Diese jedoch ist zusammen mit den übrigen menschlichen Disziplinen vielfältiger Veränderung unterworfen: Was ständige und fortlaufende Beobachtung so vieler Jahrhunderte übergenug beweist.«5 Die Aufgabe der biblischen Theologie liegt somit in der Erhebung des sensus scriptorum, ihr muss ein historisch-exegetisches Verfahren zugrunde liegen, während die dogmatische Theologie sich durch Rationalität, Konfessionalität und philosophische Aktualität auszeichnet. Bibelstellen dienen nicht einfach mehr zum Beweis dogmatischer Aussagen (dicta probantia), sondern als genus historicum ist die biblische Theologie eine eigenständige Wissenschaft und Voraussetzung der dogmatischen Theologie.
Beim Vollzug der biblischen Theologie als einer rein historischen Disziplin legt Gabler Wert darauf, dass die Lehre von der göttlichen Inspiration der Schrift bei der Ermittlung des sensus literalis beiseite gelassen wird, dass die Vorstellungen, Begriffe und Anschauungen der »heiligen Männer« genau unterschieden und verglichen werden, wobei Altes und Neues Testament letztlich getrennt werden müssen, und schließlich bei der Exegese genau differenziert wird zwischen der grammatischen Auslegung und der folgenden Erklärung des Textes. Während sich die grammatische Auslegung auf den Sinn eines Textes richtet, auf das, was der Schriftsteller bei der Abfassung des Textes dachte, unterzieht die Erklärung den Text einer scharfen historischen und philosophischen Kritik. »Man kann daher in der That einen gegründeten Unterschied zwischen Auslegen und Erklären machen: zu dem ersten gehört nur die Erforschung des Sinnes; zu dem letztern hingegen die Aufklärung der Sache selbst …«6 Gablers Unterscheidung zwischen Wort- und Sacherklärung ist eine grundlegende hermeneutische Anweisung, die in leicht abgewandelter Form heute in der Differenzierung von Sinn und Bedeutung eines Textes große Aktualität besitzt7.
Fortan wurde auch die Bibel wie jedes andere literarische Produkt der Antike mit den Methoden der kritischen Geschichtswissenschaft und Philologie untersucht, die vor allem im 19. Jahrhundert einen ungeheuren Aufschwung nahmen (L. v. Ranke, J. G. Droysen, Th. Mommsen, H. Usener).
Die im Rahmen dieser Entwicklung entstandene historisch-kritische Auslegungsmethode hat nun ihr Recht keineswegs in sich selbst, sondern sie hat sich als eine sachgerechte und den Texten angemessene Auslegungsform erwiesen und muss sich auch in Zukunft ständig als solche erweisen. Sie ist nicht in sich einheitlich, es gibt nicht ‚die‘ historisch-kritische Methode, sondern sowohl hinsichtlich der Methodik als auch der Ergebnisse fehlt es nicht an Unterschieden. Dies ist aber nur natürlich; denn als eine geschichtlich denkende Auslegungsmethode ist sie selbst der Geschichtlichkeit und damit der Veränderlichkeit unterworfen.
Lektüre
EBELING, G., Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche, in: ders., Wort und Glaube I, 31967, 1–49
1 J. S. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon I, 1771, 75.
2 A.a.O. III, 1773, 26.
3 G. E. Lessing, Ueber den Beweis des Geistes und der Kraft,