2.1 Handeln: Soziologie und Philosophie
2.1.1 Denken über die Welt und Denken des Denkens
Es könnte scheinen, als ließe sich das Werk von Jürgen Habermas in zwei Bereiche unterscheiden, die akademischen Fächern zuzuordnen sind: in soziologische und in philosophische Beiträge. Das könnte dann als ein Denken über zwei verschiedene Themengebiete aufgefasst werden, wenn man die Entwicklung der Philosophie in den vergangenen ca. 300 Jahren – also etwa seit Descartes – als den Weg zu einem von den Wissenschaften sich radikal unterscheidenden Denken interpretiert.
Dafür spricht insbesondere die Ausbildung der Reflexion als der gedanklichen Grundbewegung der Philosophie. ‚Re-Flexion‘ ist eine Bewegung des ‚Sich-Zurückbeugens‘ oder ‚Zurückkommens‘ von dem Erforschen der gegenständlichen Welt, das für die Wissenschaften kennzeichnend ist, auf das Forschen und das forschende Subjekt selbst. Darin werden keine Begriffe, Gedanken und Einsichten über die Welt der Gegenstände und der Ereignisse entwickelt, sondern Begriffe, Gedanken und Einsichten über eben die Begriffe, Gedanken und Einsichten, mit denen wir Erkenntnisse über die Welt gewinnen, so dass wir in ihr erfolgreich handeln können. Die Philosophie begann von da an, vor allem über das Denken und das darin geschehende Bilden von Begriffen, Theorien und Erkenntnissen zu denken. Das schloss auch ein Denken über Begriffe und ihre Geschichte und darüber hinaus ihre Nützlichkeit ein. Die Tätigkeit, in der wir technisch verwertbare Erkenntnisse über die Welt gewinnen, wurde dagegen mehr und mehr den Wissenschaften überlassen.
Auch die Soziologie entwickelte sich als eine solche Wissenschaft, nachdem sie sich von dem philosophischen Denken über das richtige Handeln und über das richtige Zusammenleben der Menschen unterschieden und einen empirischen Zugang zu dem, was ist, gewählt hatte – was sich bekanntlich in den meisten Fällen von dem, was sein sollte, beträchtlich unterscheidet. An die Stelle der Frage nach dem, was man mit guten Gründen vorschreiben oder zumindest empfehlen kann, trat nun mithilfe von Wahrnehmungen die Beschreibung des tatsächlichen Lebens in der Gesellschaft und [<<31] eine darauf aufbauende Theoriebildung, die sich durch die Heranziehung empirischer Untersuchungen und Daten ausweisen musste. Als die Philosophie und die Wissenschaften begannen, getrennte Wege zu gehen, entwickelte sich also auch die Soziologie zu einer empirischen Erkenntnis über einen bestimmten Teil der Welt, während die Philosophie mehr und mehr zur ‚Re-Flexion‘ wurde, also auf das Denken, auf Begriffe und auf das Erkennen in den von den Wissenschaften beanspruchten Erkenntnissen zurückzukommen und darüber zu denken begann.
Die Soziologie gehört also nun einer Art des Erkennens an, die man als ‚intentio recta‘ bezeichnen könnte. Das soll nicht heißen, dass dies eine ‚richtige‘ oder bessere oder aus irgendeinem Grund zu bevorzugende Intention darstellt. Es bedeutet nur, dass sie sich ‚direkt‘ oder ‚geradewegs‘ in Richtung Welt wendet. Das philosophische Denken dagegen könnte man der ‚intentio obliqua‘ zurechnen, d. h. der sich ‚zurückbeugenden‘ Bewegung auf das Denken, seine Begriffe und das damit beanspruchte Erkennen selbst. In der Philosophie begann diese besondere Denkbewegung mit dem, was man heute grob als ‚Bewusstseinsphilosophie‘ bezeichnen könnte. Dieser Weg führte von Descartes über Kant, Hegel, Fichte, Schelling bis hin zu Husserl.
So verschieden diese Denker auch vorgingen, eine Gewissheit war ihnen doch gemeinsam: Die Philosophie gewinnt das ihr und nur ihr eigene Thema, indem sie das Bewusstsein von sich selbst – das Sich-Wissen – untersucht. Nur in der Erhellung des Zurückkommens des Bewusstseins auf sich selbst findet sie einen Erkenntnisgrund, den sie nicht mit den Wissenschaften teilen muss, die sich nun auf eine letztlich an der sinnlichen Wahrnehmung festgemachte Bildung von Theorien konzentrieren. Diese Tätigkeit können sie nur durch die Berufung auf die Wahrnehmung ausweisen, was immer besser gelang, als sie mithilfe der Methode des Experimentierens die Wahrnehmung immer effektiver und systematischer für die Kontrolle und Begründung ihrer Theorien einzusetzen lernten.
Diese Grundstruktur der Philosophie als einer Reflexion änderte sich auch dann nicht grundsätzlich, als Ende des 19. Und dann mehr und mehr im 20. Jahrhundert grundsätzliche Probleme mit dem Ansatz beim Wissen von sich selbst, also beim Bewusstsein und Selbstbewusstsein, unabweisbar wurden. Die Reflexion der Philosophie verwandelte sich von einem Zurückkommen auf das Bewusstsein in ein Zurückkommen auf die Sprache, in der wir denken, Begriffe bilden und erkennen. Die wichtigsten Grundlagen dafür wurden von Nietzsche, Wittgenstein und dann in der analytischen und postanalytischen Philosophie gelegt, und eine neue Blüte erlebte dieser Ansatz bei Willard Van Orman Quine und Donald Davidson. Auch dabei ging es nicht um eine wissenschaftliche Untersuchung der Sprache, wie das eine empirische Sprachwissenschaft zu ihrer Aufgabe machen könnte. Philosophisch [<<32] bedeutsam wurde dieses ‚linguistische‘ Paradigma, das das bewusstseinstheoretische Paradigma abzulösen begann, weil es sich durchaus an die gleiche Grundbewegung der neueren Philosophie in einer Reflexion auf das Denken, das Bilden von Begriffen und das Erkennen anschließen ließ, die schon für die Bewusstseinsphilosophie von fundamentaler Bedeutung war, nur dass die Reflexion nur die Sprache zu ihrem Ziel hatte und nicht mehr das Bewusstsein bzw. das Selbstbewusstsein.
Diese Veränderung änderte deshalb aber nichts daran, dass auch die Soziologie weiter einen dem philosophischen Denken grundlegend fremden Ansatz innerhalb des Erkennens darstellte, nämlich ein nichtreflexives Erkennen der (sozialen) Welt und kein Erkennen des Erkennens. Die Unterscheidung zwischen der Philosophie als dem Bereich der ‚intentio obliqua‘ und den Wissenschaften als einem Erkennen nach der Art der ‚intentio recta‘ wurde in der empirischen Wirklichkeit des Denkens sehr oft nicht in reiner Form durchgeführt. Philosophen mischten sich in die wissenschaftliche Theoriebildung ein, indem sie Grundbegriffe kritisierten oder meinten, diese müssten eigentlich ganz anders sein, und Wissenschaftler vor allem aus den Humanwissenschaften glaubten gerne, es sowieso viel besser zu wissen als die in der Wissenschaft etwas zurückgebliebenen Philosophen.
Aber solche Vermischungen der beiden Denkansätze ließen sich doch in den meisten Fällen auf Missverständnisse zurückführen. In anderen Fällen untersuchten Philosophen einfach Fragen, die von den Wissenschaften vernachlässigt wurden, oder sie versuchten vor allem im Bereich der Ethik herauszufinden, welche Regeln innerhalb der gemeinsamen Traditionen und Sprachspiele einer Kultur anschlussfähig für die meisten Menschen sein könnten, so dass sie ihnen so weit zustimmungsfähig erscheinen, dass darauf politische Entscheidungen gegründet werden können, die in einem Staat auch unter Androhung von Zwang gelten sollen, auch wenn ihnen nicht alle Menschen aus freiem Willen folgen möchten.
Nun könnte es scheinen, als müsste das Verbinden von Soziologie und Philosophie, wie es für das Denken von Jürgen Habermas charakteristisch ist, als Anachronismus gelten oder einfach als das zufällige Zusammen-Vorkommen von zwei ganz verschiedenen Denkrichtungen, wie es für einen Menschen, der über eine immense Rezeptionsbegabung verfügt, nicht ungewöhnlich ist. Aber ein solch biographisches, personales oder auch bei Vorstellungen von der speziellen Gehirnstruktur unseres Autors ansetzendes Verständnis der ‚Doppelstruktur‘ von Soziologie und Philosophie in dessen Denken würde doch zu kurz greifen. In der Tat steht im Denken von Habermas ein Begriff im Mittelpunkt, der sowohl der Soziologie als auch von alters her der Philosophie angehört. Das allerdings wäre noch kein sachlicher Grund, denn obwohl etwa der Begriff des Atoms bereits in der antiken Naturphilosophie vorkam, so würde doch [<<33] niemand daraus schließen, die moderne Atomphysik müsse einen inneren Zusammenhang mit der reflektierenden Philosophie aufweisen. Aber es gibt einen Begriff, bei dem sich eine Aufteilung in Wissenschaft (Soziologie) und Philosophie nicht so einfach durchführen lässt. Genau bei diesem Begriff zeigt sich, warum Habermas beanspruchen kann, Soziologe und Philosoph sein zu müssen.
Dass eine säuberliche Unterscheidung in einen soziologisch-wissenschaftlichen und einen philosophischen Begriff in einem bestimmten Fall nicht machbar ist, dies beruht allerdings bereits auf einem zentralen Gedankengang von Habermas. Dieser Fall wird mit dem Begriff des Handelns bezeichnet, der nach Habermas so sehr ein philosophischer Begriff ist, dass ihn die Soziologie dann nicht als einen Begriff zur Beschreibung der Welt – bzw. der sozialen Welt als eines Ausschnitts daraus – verwenden kann, wenn sie ihn von genuin philosophischen Konnotationen befreit einzusetzen versucht. Nun könnte man dagegen sofort darauf