An dieser Stelle springt Habermas nun bereits in der Schrift ‚Erkenntnis und Interesse‘ sehr weit voraus auf die Theorie, die er viel später erst ausführlich entwickeln wird, die aber das Zentrum seiner ganzen Philosophie und Soziologie darstellt. Bereits an dieser frühen Stelle in Habermas’ intellektueller Entwicklung findet sich ein Zitat, mit dem man jenes Zentrum gut zum Ausdruck bringen kann: Mit der Struktur der Sprache – also mit jenem Übergang von der Natur in den soziokulturellen Zustand, in dem erst von Interessen die Rede sein kann, welche die Erkenntnis leiten,
„ist Mündigkeit für uns gesetzt. Mit dem ersten Satz ist die Intention eines allgemeinen und ungezwungenen Konsensus unmissverständlich ausgesprochen.“ (TW 163)
Wenn dem so ist, so müssen jene erkenntnisleitenden Interessen von einer solchen Art sein, dass sie den Implikationen jener Struktur von Sprache entsprechen, d. h., sie müssen jener ‚Intention‘ bereits des ersten Satzes folgen. Das heißt nicht, dass der tatsächliche Prozess der Erarbeitung von Erkenntnissen jener Fluchtlinie in der ‚Mündigkeit‘ und in einem ‚allgemeinen und ungezwungenen Konsensus‘ schon entsprechen muss. Ein solcher Zustand wäre geradezu eine Beschreibung einer ‚emanzipierten Gesellschaft‘. Da dies nicht der Fall ist, enthält eine kritische Diskussion des Zusammenhangs von Erkenntnis und Interesse nach Habermas stets eine kritische Dimension: Etwas soll sein, obwohl es in der Wirklichkeit doch nicht ist.
Sobald wir über Sprache verfügen und damit nach Erkenntnis suchen können, haben wir nach Habermas also die „Idee der wahren Übereinstimmung“ und mehr noch: Von diesem Zeitpunkt an „gründet die Wahrheit von Aussagen in der Antizipation des gelungenen Lebens.“ (TW 164) Die Interessen, um die es in der Erkenntnis geht, lassen sich demnach aus den Grundlagen des Erkennens selbst begründen, und diese Grundlagen lassen sich wiederum kritisch gegen eine Erkenntnis wenden, die nicht oder zu wenig kritisch ist, weil sie jene Grundlagen nicht ausreichend berücksichtigt. Die kritische Kraft der Erkenntnis lässt sich demnach letztlich darauf zurückführen, dass sie sprachlich geschieht und somit in der Verständigung zwischen Menschen. In dieser Verständigung sind Interessen angelegt, die sich in den so gewonnenen [<<23] Erkenntnissen dann durchsetzen oder aber verloren gehen können. Erkenntnis ist also stets in ihrem Wesen kritisch, weil sie aus ihrer sprachlichen Struktur und damit aus ihrer ‚Natur‘ heraus stets auf jenes Interesse verwiesen ist, das in dieser sprachlichen Struktur und in der Logik der Vergesellschaftung und des kooperativen Lebens in Gemeinschaft angelegt ist.
Es geht also bei der Betonung des Zusammenhangs von Erkenntnis und Interesse in Habermas’ ‚kritischer Theorie‘ keineswegs darum, dass Wissenschaftler monetär motiviert sind und vor allem Publicity erzielen wollen; es geht auch nicht darum, dass Industrieinteressen sich durchsetzen, wenn es um die Forschung über Nikotinwirkungen oder über Arzneimittelnebenwirkungen geht. Es geht vielmehr darum, dass Erkenntnis über ihre sprachliche und gesellschaftliche Form stets schon auf jene ‚Antizipation des gelungenen Lebens‘ verwiesen ist, die sich nach Habermas daraus ergibt, dass Erkenntnis auf die Suche nach sprachlichem Konsens und damit auf das Leben in einer Gesellschaft verwiesen ist, die durch ‚Mündigkeit‘ gekennzeichnet ist.
Eine solche Lage sieht Habermas keineswegs als verwirklicht an. Deshalb wird die Aufgabe einer kritischen Wissenschaft darin bestehen, „aus den geschichtlichen Spuren des unterdrückten Dialogs das Unterdrückte“ zu rekonstruieren (TW 164). Das ‚Unterdrückte‘ aber soll nicht etwas sein, was durch eine ethische Entscheidung zur Geltung gebracht werden sollte, die etwa von Philosophen oder Soziologen vorgenommen werden könnte. Diese Geltung ist vielmehr in den Prozessen der soziokulturellen Entwicklung selbst als deren ‚Fluchtlinie‘ angelegt, weil sie sprachlich ablaufen und der Beginn der Sprache bereits den Anfang des Anspruchs auf Begründung in einem freien Konsens enthält. Unterdrückt werden müsste also eigentlich die eigene Dynamik des Prozesses, in dem Erkenntnis geschieht.
Damit ist bereits deutlich, wie Habermas’ kritische Wissenschaft wird stattfinden müssen: Sie wird nicht ‚von außen‘ her Maßstäbe für die Erkenntnis aufstellen und zur Geltung bringen können. Ihrem eigenen Programm zufolge muss sie solche Maßstäbe vielmehr aus den Möglichkeitsbedingungen sprachlicher Verständigung entnehmen. Gerade darin kann sie solche Interessen zur Geltung bringen, die die Erkenntnis leiten sollen. Man könnte also auch sagen, dass Habermas’ Argumentation über den Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse darauf hinausläuft, die eigenen Interessen der Erkenntnis gegen deren Verfälschung durch Macht und Herrschaft zur Geltung zu bringen. Offenbar sind solche Interessen bisher nur verkürzt im Prozess der Erkenntnisgewinnung berücksichtigt worden, d. h., die Erkenntnis hat sich selbst nicht ausreichend verstanden und sich selbst nicht angemessen verwirklicht. [<<24]
1.2 Differenzierungen innerhalb der Erkenntnisinteressen
Allerdings erschöpft sich darin nicht die Habermas’sche Theorie der Erkenntnisinteressen, obwohl der gerade entwickelte Zusammenhang für die weitere Entwicklung des Denkens von Habermas von besonderer Bedeutung ist. Im Grunde wird damit bereits der Gedanke der Erkenntnisinteressen an diejenige Theorie zurückgebunden, aus der sich Habermas’ ganze Philosophie einer kommunikativen Rationalität und eines entsprechenden Handelns begründet. Die Bedeutung von Interessen für das Erkennen wird damit abhängig von der Bedingtheit sprachlicher Verständigung durch die Bereitschaft, Geltungsansprüche in einer idealen Gesprächssituation überprüfen zu lassen, wie ‚kontrafaktisch‘ diese Voraussetzung auch immer sein mag. Darauf werden wir noch genauer eingehen. Aber wir müssen zunächst noch berücksichtigen, dass es bei Habermas auch eine Differenzierung von Erkenntnisinteressen gibt, die parallel geht mit einer zum Teil alten, zum Teil neueren Unterscheidung zwischen verschiedenen Wissensformen.
Eine empirisch-analytische Wissenschaft stellt für Habermas die „systematische Fortsetzung eines kumulativen Lernprozesses [dar], der sich vorwissenschaftlich im Funktionskreis instrumentalen Handelns vollzieht.“ (EI 235) Gemeint sind damit alle Naturwissenschaften sowie diejenigen Teile der Sozial- und Geisteswissenschaften, die empirisch arbeiten. Das darin auffindbare Interesse ist dasjenige an einer technischen Verfügung. Die historisch-hermeneutischen Wissenschaften dagegen haben es von selbst mit dem kommunikativen Handeln zu tun, da sie als eine Weiterführung der Interaktion von Menschen innerhalb der Umgangssprache und der entsprechenden Handlungskoordinierungen aufgefasst werden können. Hier liegt ein ‚praktisches‘ Erkenntnisinteresse vor, das sich mit Interpretationen (und nicht mit empirischen Erkenntnissen) beschäftigt, in denen es um die „Intersubjektivität der Verständigung in der umgangssprachlichen Kommunikation und im Handeln unter gemeinsamen Normen“ geht (EI 221). Mit Interpretationen tragen diese Wissenschaften, die als ‚humanities‘ im Unterschied zur ‚science‘ bezeichnet werden können, also zur intersubjektiven Verständlichkeit im Sinne einer Selbstverständigung und eines Verstehens des Fremden bei.
Das emanzipative Erkenntnisinteresse dagegen ist in der über lange historische Zeiträume entwickelten Systematik der Wissenschaften (Natur- vs. Geisteswissenschaften; empirische vs. Interpretationswissenschaften) nicht so leicht unterzubringen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn ein eigenständiger Ort im Zusammenhang der akademischen Disziplinen angegeben werden soll, also über jene transzendentale Überlegung hinaus, wonach mit dem Beginn der sprachlichen Verständigung bereits der Weg zur diskursiven Einlösung von Geltungsansprüchen in einer idealen Gesprächssituation hin [<<25] begangen wird. Habermas findet dieses Erkenntnisinteresse vor allem dort angelegt, wo das Phänomen der ‚Selbstreflexion‘ innerhalb des Wissenschaftsbereiches institutionalisiert ist, nämlich in der philosophischen Reflexion.
Damit