mJad 3,5 (Übers. Lisowsky): Alle heiligen Schriften machen die Hände unrein, auch das Hohelied und Kohelet machen die Hände unrein. R. Jehuda sagt, das Hohelied mache die Hände unrein, über Kohelet dagegen (bestehe) ein Streit. R. Jose sagt, Kohelet mache die Hände nicht unrein, und über das Hohelied (bestehe) ein Streit. R. Schim‘on sagt, Kohelet (gehöre) zu den Erleichterungen der Schule Schammais und zu den Erschwerungen der Schule Hillels. R. Schim‘on ben Azzai sprach: Mir wurde als Ausspruch der zweiundsiebzig Alten am Tage, da sie R. El‘asza ben Azarja (zum Vorsteher) einsetzten, überliefert, daß sowohl das Hohelied wie auch Kohelet die Hände unrein machten. R. Akiba sprach: Nein, behüte! Kein Mensch in Israel streitet dem Hohelied ab, daß es die Hände unrein mache; denn nie war die ganze Welt würdiger als der Tag, da das Hohelied Israel gegeben wurde, denn sind alle Schriften heilig, so ist das Hohelied hochheilig; besteht aber ein Streit, so geht er lediglich um Kohelet. Da sagte Johanan ben Schammua, der Sohn des Schwiegervaters R. Akibas: (Es ist,) wie Ben Azzai gesagt hat. So stritten sie und so entschieden sie.
Im Babylonischen Talmud (Endredaktion 6. Jh. n. Chr.) finden sich abschließende Aussagen zum Umfang des Kanons und der Reihenfolge der Bücher der Hebräischen Bibel.
bBB 14b (Übers. Goldschmidt): Die Rabban lehrten: Die Reihenfolge der Propheten (hebr. nebiim) ist folgende: Jehosua, Richter, Semuel, Könige, Jirmeja, Jehezqel, Jesaja und die zwölf. […] Die Reihenfolge der Hagiographen (hebr. ketubim) ist folgende: Ruth, Psalmen, Ijob, Sprüche, Qohelet, Lied der Lieder, Klagelieder, Daniel, die Esterrolle, Ezra und die Chronik.
Die Sonderstellung der heiligen Schriften drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass sie in ihrem Wortlaut als so wertvoll erachtet werden, dass sie nicht durch neue Bücher ersetzt, sondern kommentiert und ausgelegt werden. Die ältesten überlieferten Schriftauslegungen, etwa durch Philo, befassen sich nur mit den fünf Büchern Mose, der Tora, und unterstreichen damit deren hervorgehobene Stellung unter den heiligen Büchern. Diese enthalten nach allgemeiner Auffassung die grundlegenden Gesetze, ja wie Josephus immer wieder hervorhebt, die Verfassung (gr. politeia; πολιτεία) des jüdischen Volkes (Jos. Ant. 4,196–301). Daneben werden insbesondere die prophetischen Bücher und die Psalmen einer intensiveren Interpretation unterzogen. Deren Rezeption war noch nicht einer festen Auslegungstradition unterworfen, sodass sich hier mehr Möglichkeiten für abweichende Auffassungen boten. In den Qumrantexten finden sich die ersten Pescharim, d. h. Auslegungen:
4QFlor I 14 (Übers. Lohse): Eine Auslegung (hebr. midrasch) von: Wohl dem Manne, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen (Ps. 1,1). Die Deutung (hebr. pescher) des Wortes bezieht sich auf diejenigen, die abgewichen sind vom Wege […]
Die Pescharim legen den geschriebenen Text zugrunde. Sie nennen Einzelverse der „Schrift“ und legen sie mit dem einleitenden Hinweis „die Deutung dieses Wortes“ (hebr. pescher hadabar ascher) aus (z. B. 4QpJesb bzw. 4Q162 I,2). In den Pescharim aus Qumran werden die Schriftworte dann auf die Gegenwart der religiösen Gemeinschaft bezogen.
Eine weitere Möglichkeit abweichenden Meinungen Nachdruck zu verleihen, bestand darin, neue bzw. weitere Schriften mit autoritativem Anspruch zu verfassen. Die Henochliteratur, das Jubiläenbuch und viele andere Schriften verstehen sich nicht nur als Ergänzung der heiligen Schriften, sondern als Korrektur, Erweiterung, Erneuerung, oder sogar als Neuschreibung der grundlegenden Schriften („Rewritten Bible“). Der Eingangsteil des Jubiläenbuches macht deutlich, mit welchem hohen Anspruch diese Schrift neben die Tora tritt: Das Jubiläenbuch stellt sich als umittelbar niedergeschriebene Rede Gottes dar:
Jub 1,5 (Übers. Berger): Und er sagte zu ihm: „Richte dein Herz auf jede Rede, die ich zu dir reden werde auf diesem Berg, und schreibe sie in ein Buch, damit ihre Nachkommen sehen, dass ich sie nicht verlassen habe wegen allem Bösen, das sie getan haben, indem sie ihre Ordnung auflösten, die ich heute verordnet habe zwischen mir und dir für ihre Geschlechter auf dem Berge Sinai.“
Daneben ist schließlich auch noch zu erwähnen, dass biblische Gattungen weitergeführt wurden. In 11QPsa XXVII, 4 f. (David-Komposition) wird erwähnt, dass David 3600 Psalmen (hebr. tehilim, תהלים) und 450 Lieder (hebr. sir, שיר) für den Tempeldienst geschrieben habe.13 Diese sind nicht mehr erhalten, aber die Qumranhandschriften belegen immerhin 200 Psalmen über die dort ebenfalls belegten 150 kanonischen Psalmen hinaus.14 Schließlich nehmen die Midraschim eine Mittelstellung zwischen Neuschreibung und Kommentierung ein, indem sie auf der Basis biblischer Texte durch Erweiterungen, Ergänzungen und Ausschmückungen besonders die narrative Gestalt der Vorlage umgestalten.15
Die Vielfalt des Schriftgebrauchs im antiken Judentum reicht demnach von der Sphäre des Rechts, der Politik bis zum Kult. Zudem wurden die heiligen Bücher ausgelegt und für Sondermeinungen in Anspruch genommen sowie durch weitere Literatur ergänzt. Schließlich galten die heiligen Schriften auch als autoritative historische Berichte von der Geschichte des jüdischen Volkes.
Die unbestrittene Mitte der heiligen Schriften des antiken Judentums sind die fünf Bücher Mose, der Pentateuch, die zusammenfassend als Tora oder Gesetz bezeichnet werden. Daneben stehen die prophetischen Bücher, deren Anzahl ebenfalls als weitgehend abgeschlossen gilt. Die Schriften als dritter Teil der jüdischen Bibel haben geringere Geltung und auch ihr Umfang ist noch umstritten. Neben diesem Kernbereich der Überlieferung existiert eine lebendige Produktion von religiösen Schriften, Fortschreibungen biblischer Texte und Gattungen („Rewritten Bible“) und zunehmend auch Auslegungen, die die Auseinandersetzung um die heiligen Schriften und deren Aussagen lebendig erhalten.
Geschichte kann verstanden werden als eine Abfolge von vergangenen Ereignissen in Raum und Zeit, die durch das Subjekt des Geschehens, den Raum, in dem es sich vollzieht, und durch andere Kausalitäten einen Zusammenhang bilden. Geschichtsschreibung besteht nur darin, diesen Zusammenhang zu erfassen und ihm eine narrative Gestalt zu geben. Sie beruht demnach einerseits auf den Informationen über diese Ereignisse und andererseits auf der Art ihrer Darstellung, über die die Geschichtsschreiber entscheiden. Diese bringen als Einzelpersonen oder Repräsentanten von Gruppen in der Geschichtsschreibung auch ihr gegenwärtiges Selbstverständnis zum Ausdruck. Es geht im Folgenden demnach um das Geschichtsverständnis des antiken Judentums und um die Konstruktion der Geschichte des jüdischen Volkes als Teil seines Selbstverständnisses und nicht um eine kritische Rekonstruktion der tatsächlichen Ereignisse.
Die Vertreter des antiken Judentums waren stolz auf die geschichtlichen Überlieferungen des Judentums. Sie waren der Ansicht, dass ihnen im Pentateuch und in den prophetischen Schriften eine vernünftige und glaubwürdige Geschichte ihres Volkes überliefert sei, ja dass diese Bücher, die mit der Erschaffung der Welt beginnen, auch eine Geschichte allen Seins enthielten. So hebt Josephus die Zuverlässigkeit und Klarheit der heiligen Bücher des Judentums hervor:
Jos. Ap. 1,38 f.: […] nicht Tausende von unstimmigen und einander widerstreitenden Büchern existieren bei uns, sondern 22 Bücher enthalten die Niederschrift der gesamten Zeit, die auch zu Recht anerkannt sind. Von diesen sind fünf die des Moses, sie enthalten die Gesetze und die Überlieferung von der Menschenerschaffung bis zum Tod des Gesetzgebers Moses.
Immer wieder wird von jüdischen Autoren der Antike behauptet, dass die heiligen Schriften des Judentums auch die hervorragenden Vertreter des Griechentums beeinflusst hätten. Für Philo gilt es als sicher, dass Platon für seine Schrift Timäus, in der die Entstehung der Welt erörtert wird, „Moses“, genauer das Buch Genesis genutzt, habe.16 Er deutet zudem den Namen des Volkes Israel mit „das Volk derjenigen, die Gott sehen“ und schließt daraus, dass die Griechen zwar einen wahren Philosophen (Sokrates bzw. Platon) hätten, Israel aber ein Volk von Philosophen sei.17 Die heiligen Schriften des Judentums