Auch der Apostel Paulus steht in dieser Tradition der scharfen Kritik an der heidnischen Götterverehrung. Diejenigen, die statt Gott selbstgemachte Götzen verehren, sind ihmzufolge zum Tode verurteilt:
Röm 1,20.22 f.32: Das unsichtbare Wesen (Gottes) […] ist ja seit der Erschaffung der Welt, wenn man es in seinen Werken betrachtet, deutlich zu ersehen, damit sie (die Menschen) keine Entschuldigung haben. […] (22) Während sie vorgaben, weise zu sein, wurden sie zu Toren (23) und vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit der Gestalt des Abbildes von vergänglichen Menschen und Vögeln und vierfüßigen und kriechenden Tieren. (24) Darum hat Gott sie dahingegeben. […]. (32) Sie kennen den Richtspruch Gottes, dass nämlich diejenigen, die derartiges tun, des Todes würdig sind.
Der Gott Israels ist demnach mit exkludierenden Eigenschaften ausgestattet, die als „Eifer“ (gr. zelos; ζῆλος; hebr. qinah; קנאה) dieses Gottes und als Eifer der Seinen für diesen Gott und sein Gesetz bezeichnet werden. Die jeweiligen Ausprägungen des „Eifers“ können sehr unterschiedliche Formen annehmen. Zunächst richtet sich der Eifer nach innen gegen Juden, denen der Abfall von den väterlichen Gesetzen vorgeworfen wird, dann gegen Nichtjuden, die Juden zum Abfall verleiten oder die im Land Israel Götzendienst betreiben, und schließlich gegen alle nichtjüdischen Symbole wie z. B. Legionszeichen der Römer, wenn sie in die heilige Stadt Jerusalem, womöglich gar während eines Festtages, gebracht werden sollen.8
Die Exklusivität der Beziehung zwischen Israel und seinem Gott gilt als Gabe und Verpflichtung, als Bund (gr. diatheke; διαθήκη). Der Bund beruht auf der Entscheidung Gottes, Israel als sein Volk zu erwählen. Bund und Erwählung bilden die Klammer, aus der die Verpflichtung zur Einhaltung des Gesetzes Gottes erwächst. Sie gelten als Gabe eines Gottes, der seinem Volk Israel gegenüber gerecht und barmherzig ist. Die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk vollzieht sich in dieser Spannung: Der gerechte Gott, der durch sein Schöpferhandeln und durch die Erwählung dieses Volkes einen berechtigten Anspruch auf Gehorsam hat, verfolgt die Verfehlungen gegen seinen Rechtsanspruch mit als gerecht angesehener Strafe. Wenn die Verfehlungen allerdings ein solches Ausmaß annehmen, dass die Vernichtung seines Volkes die gerechte Folge wäre, tritt die Barmherzigkeit im Sinne der Strafverschonung an die Stelle der Gerechtigkeit. Israel bekennt sich daher zu seinem Gott und zu dessen Willen zur Strafverschonung, indem es in Ex 34,6; Ps 145,8 u. ö. auf seine herausragenden Eigenschaften verweist.9 Die sogenannte „Gnadenformel“ fasst diese Eigenschaften Gottes im Sinne einer „Wesensdefinition“ zusammen10: Gott ist barmherzig (hebr. rachum; רחום – gr. oiktirmon; οἰκτίρμων), liebevoll (hebr. chanun; חנון – gr. eleemon; ἐλεήμων), langsam im Zorn (hebr. äräch aphim; ארך אפים, – gr. makrothymos; μακρόθυμος), voll Gnade (hebr. rav chäsäd; רב-חסד – gr. polyeleos; πολυέλεος) und treu bzw. wahrhaftig (hebr. ämät; אמת – gr. alethinos; ἀληθινός).11 Dieser barmherzige Gott wird sein Volk um seiner Zusagen willen verschonen, vor seinen Feinden retten, aus Unheil und Unglück erlösen und von Fremdherrschaft befreien.
Dieser Gott, der sich durch diese Eigenschaften an sein Volk Israel gebunden weiß, hat einen Namen: das Tetragramm JHWH. Dieser Name ist heilig und darf nicht entheiligt (Lev 19,12; 20,7) oder gar gelästert (Lev 24,16) werden. Dieser Schutz des Gottesnamens wird ab dem 3. Jh. v. Chr. auf die Aussprache ausgeweitet. Bei der Übersetzung der hebräischen Schriften der Bibel ins Griechische wird Lev 24,16, das Verbot der Lästerung, so interpretiert, dass schon die Aussprache verboten und mit dem Tod bestraft werden soll. Die ältesten Handschriften der Septuaginta lassen für den Gottesnamen eine Lücke, um dort in hebräischen Schriftzeichen das Tetragramm einzutragen. Auch zahlreiche Qumranhandschriften heben den Gottesnamen hervor, indem sie im hebräischen Text von der assyrischen Quadratschrift zu paläohebräischen Schriftzeichen wechseln, wenn das Tetragramm zu schreiben ist (z. B. 11QPsa). Im Neuen Testament gilt das artikellose „Herr“ (gr. kyrios; κύριος) als Gottesname im Unterschied zu „Herr“ als Anrede eines Höhergestellten, wobei aber im Einzelfall die Besonderheiten des Artikelgebrauchs bei Eigennamen im Griechischen zu berücksichtigen sind. Dieser Gott Israels ist der eine und einzige, der Schöpfer und Erhalter der Welt, er gibt Leben und Nahrung, und er steht zu seinem Volk in einer unvergleichlichen Beziehung, die durch Erwählung, Bund und Tora geprägt ist.
Das Gottesverständnis des antiken Judentums ist durch eine spannungsvolle Diskursivität geprägt. Gott tritt zu seiner Schöpfung und zu seinem Volk Israel durch Bundesschluss und Erwählung in Beziehung. Daraus leitet er seinen Rechtsanspruch auf Anerkennung ab. Gleichzeitig ist er aber auch durch seine Fürsorge für die Schöpfung und seine Barmherzigkeit gegenüber seinem Volk gekennzeichnet. Im Mittelpunkt stehen die Eigenschaften Gottes, wie sie in der Gnadenformel als Wesensdefinition Gottes zusammengefasst sind: Gott ist barmherzig, liebevoll, langsam im Zorn, voll Gnade, treu und wahrhaftig.
Das antike Judentum hat ein umfangreiches Schrifttum hervorgebracht, das sich zudem in einer eindrücklichen inneren Vielfalt präsentiert. Auf Hebräisch und Aramäisch, aber auch auf Griechisch, der damaligen Weltsprache, thematisieren Autorinnen und Autoren ihre Weltsicht, ihr Gottesverständnis und ihr Selbstverständnis als Teil einer religiös-ethnischen Gemeinschaft. Im Mittelpunkt stehen die „heiligen Bücher“ (gr. hieroi grammatoi; ἱεροὶ γράμματοι) des Judentums, die heute aus christlicher Perspektive als Bücher des Alten Testaments bezeichnet werden. Es ist nicht ganz klar, zu welchem Zeitpunkt die Schriftensammlung der heiligen Bücher des Judentums als abgeschlossen galt. Es lassen sich aber einige Stufen des Kanonisierungsprozesses nennen. Der erste deutliche Hinweis auf eine Abgrenzung einer definierten Schriftengruppe aus der Gesamtheit des jüdischen Schrifttums findet sich bei Jesus Sirach. Der Übersetzer des um 180 v. Chr. hebräisch abgefassten Werkes stellt diesem ein Vorwort, einen Prolog, voran. Darin erläutert er, dass der Verfasser des Werkes, sein Großvater, das „Gesetz, die Propheten und andere väterliche Schriften“ studiert habe (Sir Prol. 24 f.). Jesus Sirach ist demnach der älteste Beleg für die Dreiteiligkeit des Kanons heiliger Schriften im antiken Judentum.12 Der Autor selbst blickt also auf eine Schriftensammlung zurück, die zwar schon recht konsolidiert wirkt, aber auch noch offen für Ergänzungen ist.
Genauere Informationen über die einzelnen Bücher, die diesem dreiteiligen Schriftenkorpus zugehörig sind, erhalten wir erst später. Während im Neuen Testament meist nur von „Gesetz und Propheten“ (z. B. Mt 7,12; Röm 3,21) die Rede ist, wenn die Gesamtheit der heiligen Schriften bezeichnet werden soll, wird im Lukasevangelium an einer Stelle auch die Dreiteilung der Bibel zum Ausdruck gebracht, wobei der dritte Teil, die Schriften, pars pro toto mit „Psalmen“ bezeichnet wird. In Lk 24,27 findet sich zunächst der klassische zweiteilige Ausdruck, allerdings mit der für Lukas typischen Betonung der Gesamtheit der Propheten durch das Adjektiv „alle“. Einige Verse später wird dann aber die Gesamtheit der heiligen Schriften des Judentums in der dreiteiligen Form zum Ausdruck gebracht:
Lk 24,27: Und er begann, angefangen von Moses und von allen Propheten, ihnen zu erklären, was in allen Schriften über ihn (zu finden ist).
Lk 24,44: […] es muss alles das erfüllt werden, was über mich geschrieben ist im Gesetz des Moses und bei den Propheten und in den Psalmen.
Die Gesamtzahl der biblischen Bücher wird zum ersten Mal von Josephus in seiner Schrift Contra Apionem, etwa in den ersten Jahren nach 100 n. Chr., festgehalten. Er spricht von 22 Schriften und untergliedert diese in die fünf Bücher Moses, dreizehn prophetische Bücher und vier Schriften (Jos. Ap. 1,38 f.). Die Bücher Moses und die Propheten gelten ihm als historische Berichte, die Schriften dienen seiner Meinung nach vor allem zu Gottesverehrung und Lehre. Etwa zeitgleich nennt das apokryphe und auf Lateinisch überlieferte vierte Buch Esra 24 Bücher, die von allen zu lesen sind, im Unterschied zu nicht näher bezeichneten 70 geheimen Schriften, die nur die Weisen einsehen dürfen (4Esr 14,45 f.). Es zeigt sich, dass im ersten nachchristlichen Jahrhundert der Kanon zwar noch nicht abgeschlossen war, aber doch als dreiteilige Sammlung der heiligen Bücher des Judentums aus Gesetz, Propheten und Schriften