Man sieht sogleich, dass dieses Verständnis von Kultur weit von jeder Form des Essentialismus entfernt ist. Kulturen sind überhaupt keine Entitäten, folglich können sie auch nicht nebeneinander stehen, wie es der Konzeption der Interkulturalität von Kritikern fälschlicherweise immer wieder vorgeworfen wird. Kulturen verdanken sich dem Zusammenspiel sozialer Ordnungen; sie stellen so etwas wie die Geschichte dieses Zusammenspiels mit Blick auf die konkrete Lebenspraxis einer Gesellschaft dar.3 Zugleich verdanken sie sich natürlich dem Zusammenspiel der verschiedenen Kulturen in der interkulturellen Dimension. Erst im Zusammenspiel mit anderen Kulturen werden sie sich ihrer eigenen Geschichtlichkeit bewusst.
Ein solches Kulturverständnis widerspricht nun nicht mehr der Wandlungsfähigkeit der Kulturen. Im Gegenteil, was eine Kultur ausmacht, steht letztlich in jeder einzelnen menschlichen Handlung auf dem Spiel. Zudem lernen die Kulturen voneinander und sie beeinflussen sich wechselseitig. Allerdings lassen sich die Kulturen nicht ohne weiteres in Komponenten zerlegen und beliebig mischen, wie dies in der transkulturellen Konzeption angenommen wird. Die sozialen Ordnungen sind ebenso wenig wie die Kulturen eigenständige Entitäten, sondern verdanken sich dem Zusammenspiel von Handlungen. Wenn wir in der westlichen Gesellschaft heute beispielsweise von einer freien Wahl der Religionszugehörigkeit sprechen und diese als Gewinn gegenüber christlich geprägten Traditionen preisen, dann drückt sich darin der Wandel der religiösen Ordnung in unserer Gesellschaft aus; nicht aber stehen in unserer Gesellschaft heute eine Vielzahl verschiedener religiöser Ordnungen, die anderen Kulturen entstammen, einfach nebeneinander. Wenn sich ein Mitteleuropäer dem hinduistischen Glauben anschließt, gehört er deswegen noch nicht der gelebten religiösen Ordnung der indischen Gesellschaft an. Diese hängt nicht allein am hinduistischen Glauben. Das widerspricht nicht der Ausbildung globaler Gemeinsamkeiten. Aber solche Gemeinsamkeiten bilden sich nicht durch Vereinheitlichung aus, auch nicht durch Vermischung, sondern in der Form der Entsprechung. So wie die Wirtschaft nicht im Sport aufgeht, beide Ordnungen aber sehr wohl Entsprechungen untereinander ausbilden können, so gehen auch die verschiedenen Kulturen nicht ineinander auf, sondern bilden Entsprechungen untereinander aus. Kulturen sind Lebensgeschichten. Die lassen sich weiterspinnen und gegebenenfalls zusammenflechten, aber nicht mischen.
Ein letzter Punkt soll an dieser Stelle zumindest angedeutet werden. Nach dem bislang Gesagten sollte klar geworden sein, dass pauschale Bezeichnungen wie ›der Deutsche‹, ›der Marokkaner‹ oder ›der Muslim‹ interkulturell nicht möglich sind. Kulturen sind heterogene Gebilde, ja sie sind nichts anderes als das Gespräch und Zusammenspiel einer Vielzahl verschiedener Lebensbereiche und Lebensformen. Um die interkulturelle Situation richtig zu beschreiben und auf sie antworten zu können, ist aber ein weiterer Aspekt wichtig: Wir müssen dimensionale Unterscheidungen treffen und uns immer darüber klar werden, in welcher Dimension sich eine Fragestellung oder eine kulturelle Begegnung bewegt.4 Mir geht es im vorliegenden Buch um die interkulturelle Dimension. Das ist weniger selbstverständlich, als es klingt, und tatsächlich finden sich auch in der interkulturellen Philosophie zahlreiche Ansätze, die eigentlich auf eine andere Dimension zielen.5 Wenn sich Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft begegnen, dann können sie das in vielen verschiedenen Dimensionen tun. Beispielsweise können sie sich am Postschalter begegnen; dann sind die jeweiligen Rollen, in denen sie sich begegnen, durch die alltägliche und öffentliche Situation der Post bestimmt – der eine ist Schalterbeamter, der andere Kunde. Diese Rollen sind völlig unabhängig davon, welcher kulturellen Herkunft die beiden sind. Oder sie können sich auf einem philosophischen Kongress begegnen, beispielsweise einem KantKant, Immanuel-Kongress. Ganz gleich, wo der Kongress stattfindet, und ganz gleich, welcher Herkunft die beiden Personen sind, stellt nun die kantische Philosophie den Rahmen bzw. den Boden ihrer Begegnung dar. Sie begegnen sich als Kantforscherinnen. Sie können sich nun aber auch so begegnen, dass ihre kulturelle Herkunft in dieser Begegnung eine Rolle spielt. Beispielsweise können sich eine Muslima und eine Christin begegnen und über den Religionsunterricht an deutschen Schulen diskutieren. In diesem Fall können die verschiedenen religiösen Überzeugungen der beiden, die sie möglicherweise aufgrund ihrer unterschiedlichen kulturellen Herkunft gewonnen haben, für die Begegnung wichtig sein. Auch in diesem Fall gibt es aber einen gemeinsamen Boden, auf dem die Begegnung stattfindet, etwa die Schulgesetzgebung des betreffenden Bundeslandes oder die Religionsfreiheit, die in Deutschland gewährleistet wird. In dieser Dimension der Begegnung ist es übrigens sehr wohl auch möglich, dass die Muslima deutscher, die Christin aber nicht-deutscher Herkunft ist; ebenso können die beiden ihre religiösen Überzeugungen ändern – der Einzelne ist nicht an seine kulturelle Herkunft gefesselt. Bei der Diskussion der Multikulturalität haben wir gesehen, dass ein Zusammenkommen ganz verschiedener religiöser Überzeugungen und kultureller Lebensformen auf dem Boden eines freiheitlichen Verfassungsstaates gut möglich ist. Wir haben aber auch gesehen, dass diese Pluralität nur auf dem Boden eines solch freiheitlichen Verfassungsstaates möglich ist.
In der interkulturellen Dimension geht es nun aber gerade um die Begegnung von Kulturen; um beim Beispiel zu bleiben: In der interkulturellen Dimension begegnen sich die Menschen so, dass in ihrer Begegnung die jeweiligen Kulturen gemeint sind. Es geht in dieser Begegnung nicht um religiöse Überzeugungen und kulturelle Lebensformen, sondern um die geschichtlich gestalteten Lebenswirklichkeiten der Menschheit. Eine solche Begegnung kann auf keinem Boden stattfinden, müsste der doch dies- oder jenseits aller Kulturalität und damit außerhalb aller menschlichen Lebenswirklichkeit liegen. Das weist erneut darauf hin, dass die Kulturen durch nichts getrennt sind. Und doch lösen sie sich nicht in einer gemeinsamen Identität auf. Sie sind alle wirklich, aber so, dass die Wirklichkeit in jeder einzelnen Kultur im Ganzen verwirklicht ist. Die Kulturen teilen sich die Wirklichkeit nicht untereinander auf, sondern die Wirklichkeit kommt in jeder einzelnen Kultur voll zur Entfaltung, wenn auch auf besondere Weise. Das heißt auch, dass in jeder Kultur alle anderen Kulturen auf diese Weise mit aufgenommen sind bzw. fortlaufend mit aufgenommen werden. Dies einzusehen und die Autonomie und die Verantwortlichkeit der Kulturen, die daraus folgen, aufzuzeigen, ist die Aufgabe interkultureller Philosophie. In diesem Sinne ist die Begegnung