Damit ist auch klar, in welcher Dimension ein Polylog gelingen kann: Dort, wo Menschen verschiedener kultureller Traditionen aufeinander treffen und sich über ihr Zusammenleben verständigen müssen. Entscheidend ist, dass dabei nicht die kulturellen Traditionen selber auf dem Spiel stehen bzw. einander begegnen. Die kulturellen Traditionen tauchen lediglich in Gestalt einzelner Überzeugungen, Einsichten und Gewohnheiten auf, die von den am Polylog beteiligten Subjekten in die gemeinsame Situation eingebracht werden. Tragend ist letztlich die gemeinsame Situation. Die aber steht im Polylog nicht zur Diskussion. Auch die interkulturelle Situation nicht.
Letztlich arbeitet der polylogische Ansatz deshalb wie alle anderen einheitstheoretischen Ansätze auch mit jenem verdinglichenden Kulturverständnis, das wir schon bei der Diskussion der Multi- und der Transkulturalität in Kapitel 1 kennen gelernt haben. Kultur ist demnach etwas, das Menschen prägt und das sie in ihre jeweilige Lebenssituation mit einbringen, das aber auf dem Boden der Vernunft grundsätzlich austausch- und verhandelbar bleibt. Der vernünftige Mensch kann sich – jedenfalls prinzipiell – frei zu seiner Kultur verhalten; er ist, um es zugespitzt zu sagen, wesenhaft ein vernünftiges und nur historisch bedingt ein kulturelles Lebewesen. Folglich ist auch die Vernunft grundsätzlich unabhängig von historischen und kulturellen Besonderheiten; sie ist universal. Darin kommt das Primat der Einheit stiftenden Vernunft deutlich zum Ausdruck.
Zum Schluss sei noch eine ganz anders gelagerte Kritik am Polylog angedeutet. Man könnte nämlich versuchen, statt der Minimalregel eine Maximalregel vorzuschlagen. Diese lautet nun nicht, in den Polylog immer alle Kulturen einzubinden; darin läge keine grundsätzliche Korrektur, sondern nur eine graduelle Erweiterung. Vielmehr müsste eine solche Maximalregel die verschiedenen Logoi, die in den Polylog einfließen, ernster nehmen.9 Solange man sich auf einer bloß formalen Ebene bewegt oder Logos gar auf Logik reduziert, lässt sich die Pluralität der Logoi nicht losgelöst von der Annahme eines einzigen Logos denken. Versteht man Logos nun aber als die spezifische Ordnung einer kulturellen Lebenswelt, sozusagen als die Vernunft, die sich im jeweiligen Selbstverständnis der Menschen und ihrem Umgang mit der Welt ausdrückt, verbietet es sich eigentlich, den einzelnen Logos als bloßen Teil eines zugrunde liegenden oder auch erst zu gewinnenden universalen Logos zu fassen. Im jeweiligen Logos einer Kultur drückt sich die gelebte Vernünftigkeit sowohl der einzelnen Personen als auch der von ihnen geteilten Lebenswelt aus. In ihm drückt sich aus, was Mensch und Welt in einer Kultur sind. Das Menschsein und die Welt können aber nicht unvollständig sein – und das heißt eben auch, sie können in einer kulturellen Lebenswelt nicht lediglich ›auf eine bestimmte Weise‹ verwirklicht sein. Die Menschen einer Kultur sind nicht nur auf eine bestimmte Weise Mensch; ihre Welt ist nicht nur auf eine bestimmte Weise Welt. Sie brauchen den Austausch mit anderen Kulturen nicht, um ganz Mensch und ganz Welt zu werden. Sie brauchen den Austausch mit anderen Kulturen aber sehr wohl dafür, um auf diese ihre eigene Unbedingtheit aufmerksam zu werden und zu erkennen, dass in jeder einzelnen Kultur das Menschsein und die Welt im Ganzen und die Vielzahl der Logoi im Gesamt auf dem Spiel stehen.
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