Er blickte förmlich durch mich hindurch. Mit seinen Gedanken schien er wieder in jene Nacht zurückversetzt zu sein, in der Thorben Rademacher ums Leben gekommen war. „Ich war hier drinnen und habe dort hinten, auf der anderen Seite des Raums am Fenster gestanden. Da draußen lungerte so ein Typ herum. Zwischendurch nahm er eine Waffe heraus und fingerte daran herum.“
„Können Sie den Mann beschreiben?“
„Dunkles, gelocktes Haar. Außerdem trug er eine Kette um den Hals mit einem ziemlich großen Kreuz.“
„Das konnten Sie bei der Dunkelheit sehen?“, fragte Rudi verwundert.
„Ja, als er sich gegen die Laterne lehnte und direkt im Licht stand. Probieren Sie es aus! Stellen Sie sich ans Fenster und der andere von ihnen kann sich da draußen genau dort hinstellen, wo der Typ stand.“
Ich zeigte ihm ein Foto von Gerighauser.
„War das dieser Mann?“
„Genau!“
„Erzählen Sie, was geschah.“
„Ich habe mich versteckt. Und einfach abgewartet. Nachdem ich die Pistole gesehen hatte, wollte ich mich nur noch verkriechen. Später habe ich Schritte und Stimmen gehört.“
„Einen Schuss?“
„Nein, da war kein Schuss. Aber es fuhr zweimal ein Wagen davon. Das weiß ich genau. Und der letzte Wagen war mit Sicherheit ein Sportwagen. Ich tippe auf Porsche.“
„So etwas hören Sie?“, fragte ich verwundert.
Er nickte. „Ich war früher mal Mechaniker, bevor... Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls habe ich mich schließlich wieder hervorgewagt. Aber da war niemand mehr.“
„Sie haben uns sehr geholfen, Herr...“
„...Thorn. Martin Thorn.“
29
Sebastian Maybaum lenkte seinen Porsche nach rechts und fuhr auf den Parkplatz an der Autobahn, etwa auf halbem Weg zwischen Berlin und Hamburg.
Maybaum stoppte den Wagen.
Ein weiteres Fahrzeug befand sich etwa zwanzig Meter entfernt. Der Motor war abgeschaltet, aber die Scheinwerfer nicht. Eine Gestalt hob sich gegen das grelle Licht dieser Scheinwerfer wie ein Schattenriss ab.
Maybaum schaltete den Motor seines Porsches aus, öffnete die Tür und ging ins Freie. Ein kühler Wind wehte.
„Was soll das Theater?“, rief Maybaum aufgebracht.
Die Gestalt trat dem Kommissar entgegen.
Maybaum stutzte und erstarrte augenblicklich wie eine Salzsäule, als er die Waffe in der Hand seines Gegenübers sah.
Einen Augenblick lang dachte er daran, zu seiner Dienstpistole zu greifen. Sie steckte in einem Gürtelholster auf der linken Seite. Der Griff der SIG Sauer P 226 zeigte nach vorn.
Aber Maybaum wusste, dass er nicht schnell genug sein würde.
In dem Augenblick, in dem er gerade die Waffe gezogen hatte, würde ihm sein Gegenüber bereits die zweite Kugel in den Schädel jagen. Auf die geringe Distanz konnte Maybaum kaum damit rechnen, dass die Schüsse danebengingen.
Der Bewaffnete trug in der Linken eine Flasche Schnaps. Die warf er Maybaum zu.
„Trinken Sie!“, lautete der knappe Befehl.
„Wieso?“
Der Lauf der Waffe hob sich und zeigte nun direkt auf Maybaums Stirn.
„Trinken Sie so viel Sie können. Hören Sie nicht auf, Sie bekommen sonst eine Kugel in den Kopf.“
„Was haben Sie vor, verdammt noch mal?“
„Warten Sie es ab!“
30
„Wir haben genau 4.30 Uhr und hier ist Boris Schmitt mit der Sendung ‚Night Talk’ – und wenn Sie mich jetzt hören, dann sind auch einer von den Nachteulen, die einfach keinen Schlaf finden...“
Die Stimme des Radiomoderators drang wie von Ferne in Jörn Peters' Bewusstsein.
Peters saß hinter dem Steuer seines Zwanzigtonners.
Er unterdrückte ein Gähnen und stellte das Radio lauter.
Nicht viel hätte gefehlt und er wäre eingeschlafen.
Es wird Zeit, dass ich nach Hause komme!, dachte er. Aber zuerst musste die Ladung ans Ziel gebracht werden. Das Geschäft war hart und Jörn Peters wusste nur zu gut, wie schnell man draußen war, wenn man die Termine nicht halten konnte.
Peters war ein selbständiger Trucker, der auf eigene Rechnung fuhr. Der Truck war sein ganzes Kapital.
Erneut musste er gähnen. Im Radio wurde eine flotte Rock’n'Roll-Nummer gespielt. Peters ließ das Seitenfenster hinunter. Die kühle Nachtluft sorgte dafür, dass er wieder etwas wacher wurde. Ich schaffe es noch!, nahm er