Meine Antwort begrenzte sich auf ein Kopfschütteln, doch das reichte ihr nicht.
»Haben jetzt ein Dings mit Code vorm Klo.«
Erkenntnis breitete sich in Daphnes Gesicht aus. Vermutlich hatten sie das neue Schloss wegen uns angebracht, nachdem sämt-liche Baristas uns mit gewaschenen Haaren und neuen Outfits aus den Toiletten kommen sahen. Die Badezimmer der Straßenmenschen.
Die Frage, warum Daphne das vorgeschlagen hatte, beantwortete sich von selbst. Am Aristotelous versammelte sich die Polizei. Eine Falte bildete sich zwischen Daphnes Augen, als sie mich kritisch beäugte. Unwissend zog ich die Schultern hoch. Die konnten doch nicht wegen uns da sein, oder?
In Thessaloniki reagierte nie jemand auf »Haltet sie! Diebe!«-Rufe. Jeder kümmerte sich hier um seinen eigenen Mist. Ausnahmen waren vielleicht Lokalbetreiber, die auch Ärger mit uns gehabt hatten, oder ein paar wenige Möchtegernheilige. Selbst die Polizisten und Polizistinnen, die uns wie bei kleinen Familientreffen, wenn sie uns mal erwischten, Kaffee anboten, kamen nur noch selten. So auch dieses Mal nicht. Dachte ich.
Statt wie geplant mitten in der Menge unsichtbar zu werden, schnappte ich Daphne am Unterarm und zerrte sie seitlich zwischen den Marmorsäulen hindurch. Nur, warum hörte ich keine Rufe mehr hinter uns?
Wir liefen an Eisbars vorbei, überquerten die Straße zum Electra Palace Hotel, ein Ort, den ich mir nicht mal hätte leisten können, würde ich all meine Organe auf einmal verkaufen, und bogen in die Seitenstraße ein. Dort dampfte es vom Sommerregen, der vorhin so plötzlich begonnen hatte, wie er wieder verpufft war. Endlich ließen auch die Blicke, die ich auf mir gespürt hatte, nach. Komischerweise kam es mir vor, als würde meine braune Löwenmähne nachwippen. Um diese Locken zu bändigen, bräuchte ich Magie.
Daphne wollte vorwärts stürmen. Ich hielt sie fest im Griff, auch wenn sie beinah aus meiner schwitzigen Hand gerutscht wäre.
»Was?«
»Warte.« Vorsichtig linste ich um die Ecke.
Es verfolgte uns niemand mehr. Die Polizei patrouillierte seelenruhig. Sie standen dort also nicht wegen uns. Gut zu wissen.
»Weg?« Daphne drückte mich gegen die Mauer, um selbst einen Blick zu riskieren. Sie presste sich so fest an mich, dass ich ihr Herz-rasen unter ihrem schwarzen Lieblingshemd mit den gelben und roten Mohnblumen spürte.
»Jap.« Es wunderte mich zwar nicht mehr, dass die meisten, die wir beklauten, oftmals aufgaben, aber so schnell? Enttäuschung machte sich in meinem Bauch breit.
Eine actionreichere Verfolgungsjagd hätte mehr Klasse gehabt. Vielleicht war es auch nicht die Enttäuschung, sondern nur der Hunger, der uns erst in diese brenzlige Situation gebracht hatte. Denn ehrlich gesagt, nervte mich das beinah tägliche Weglaufen mittlerweile.
Wie dem auch sei, ich schüttelte mein schweißgebadetes Oversize--Shirt in Batikoptik durch, das an mir klebte, und drehte mich um. »Siehst du?« Ich breitete meine Arme aus. »Nichts passiert.«
»Wie kannst du nur immer so gelassen bleiben?« Die Hände auf ihren Oberschenkeln abgestützt, lugte Daphne zum winzigen Kiosk vor uns, der mit seinen tausenden Chipstüten, Getränkepäckchen, Croi-s-sants und Kaugummis in allen Farben aussah wie ein Regenbogen. »Sollten wir nicht noch ein paar Straßen laufen, um sicherzugehen?«
»Papperlapapp. Gönn dir doch etwas. Wir sind jetzt schließlich reich.« Während ich das sagte, holte ich die zehn Euro aus der Hosentasche, die wir aus dem Trinkgeldkörbchen geklaut hatten.
Geliehen, ich meinte geliehen. Gedanklich führte ich nämlich eine präzise Liste von Leuten, denen ich etwas schuldete. Sie war völlig lückenlos. Bis auf drei, vier oder auch zehn Stellen, an die ich mich partout nicht mehr erinnern wollte. Jeder andere wäre bei dem ganzen Klauen und Fliehen wohl nicht so gelassen geblieben. Nur waren wir nicht die anderen, sondern Straßenmädchen.
Daphnes Blick schwankte mehrmals zwischen den zehn Euro, mir sowie dem Kiosk hin und her. Ein resigniertes Seufzen kam über ihre Lippen und sie packte den Schein. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
Daphne stellte sich hinter die Frau, die am Kiosk darauf wartete, bedient zu werden. Ihr Lavendelparfüm drang bis zu uns.
»Welche Frage?« Natürlich erinnerte ich mich an die Frage.
»Wie du so gelassen bleiben kannst?«
Weil nichts so schlimm sein konnte wie die Qualen, die ich in Adoptivfamilien, Waisenhäusern und in Gesellschaft anderer Leute, denen ich naiv vertraut hatte, erfahren musste. »Ich bin eben ein Adrenalinjunkie.«
»Alles mit einem Lächeln abzutun, heilt keine Wunden, Margo.« Daphne sagte das nebenbei, ihre eigentliche Aufmerksamkeit galt den Leckereien im Kiosk.
Auf Zehenspitzen sah sie über die Lavendelfrau, weil sie wohl herausfinden wollte, welche neuen Croissantsorten es gab. Sie war besessen von diesen farbenfrohen Fertigcroissants in allen Geschmacksrichtungen.
»Ein Lächeln hält mich davon ab, Sachen auszusprechen. Denn dann werden sie real.« Nuschelnd beobachtete ich die schwarze Limousine, die sich durch die enge Straße zum Hotel zwängte. Vielleicht deswegen das Polizeiaufkommen?
»Hm?«
»Nichts. Schau, du bist dran.« Mit einem Nicken bedeutete ich ihr, nach vorne zu gucken.
Noch im Gehen drehte Daphne sich um, ihr ausgewachsener, wilder Pony, der einst gerade über ihren buschigen Brauen baumelte, fiel mittlerweile in ihre Augen. »Ich meine es ernst, Babe.« Nach unserem Babe-Insider schmunzelte sie, ehe sie fortfuhr. »Mit einem frechen Spruch deine Gefühle zu verstecken, bringt dich noch in Teufels Küche.«
Erstaunlich, wie perfekt Daphne mich durchschaute. Der einzige Mensch, dem ich vertrauen konnte, und selbst vor ihr versteckte ich mein Innerstes in einem kleinen, verrosteten Tresor in der Mitte meines Herzens. Zusätzlich noch mit Dornenranken verwachsen.
Vor dem Kiosk begann Daphne mit dem Besitzer Georgios zu sprechen, während ich auf die Stelle zwischen meinem Daumen und Zeigefinger blickte und das schlecht tätowierte Vorhangschloss vorfand, bei dem ich mich wunderte, dass ich mir in dem dreckigen Hinterhof keine tödliche Krankheit zugezogen hatte. Es erinnerte mich an all die schrecklichen Sachen, die meiner Seele einen Maulkorb verpasst hatten.
Ein Schaudern kroch an mir empor und leckte mir mit seiner kalten, pelzigen Zunge über den Rücken. Nicht mal die drückende Hitze konnte ihn vertreiben.
Ein Schnipsen vor meiner Nase brachte mich aus meinen Gedanken.
»Na, was is‘? Suchst du dir auch was zum Essen aus? Fünf Euro hast du noch.«
Hinter ihr erkannte ich Georgios mit seinem Weihnachtsmannbart, der mich anguckte. Manchmal glaubte ich fest daran, dass er mit dem Kiosk verwachsen war. Eine Art griechischer Kioskgott. Georgios Kioskious. Würde ich mir noch eine passende, mythische Sage dazu überlegen, würde es bestimmt jemand im Internet glauben.
Er trommelte mit seinen Fingern auf den Kaugummipackungen vor ihm.
»Sorry, ähm.« Rasch checkte ich den Stand ab. »Ich nehme eine Cola-Zitrone vom Kühlschrank und die Krabbencocktailchips, Erdbeercroissant, oh, den kalten Kakao nehme ich auch noch.«
Ein Brummen erreichte mich, woraufhin Daphne ihm den Zehneuroschein aushändigte.
Bevor ich zum Kühlschrank schritt, um meine Sachen zu holen, klopfte ich noch meine Jeanshorts ab. Alles dabei. Diese Paranoia, wichtige Gegenstände zu verlieren, würde mich noch mein erstes graues Haar kosten. Bestimmt. Das … Oder der Typ, dem wir die zehn Euro geklaut hatten, der auf der anderen Seite der Gasse mit zwei weiteren Typen auftauchte, brächte uns um.
»Ähm, Georgios. Wir holen uns den Einkauf später.«
»Was redest du denn da, wieso …«, hinter mir hörte ich das Rascheln einer Plastiktüte,