Das Tagebuch der Jenna Blue. Julia Adrian. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Adrian
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783959913065
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An uns und wie wir einst waren.

      »Nein«, sage ich schwerfällig. »Ich komme nicht mit.«

      Sie zuckt mit den Achseln, schwingt das Bein übers Rad, schiebt es die letzten Meter bis zum Hof und wirft es achtlos ins Gras. Ihr Pferdeschwanz wippt, als sie die brüchigen Stufen zu unserer Haustür erklimmt und die fehlende überspringt. Die Türklinke fällt scheppernd zu Boden. Ich höre Scarlett fluchen und das Metall knirschen, als sie den Stift zurück an seinen Platz schiebt.

      Es sind Momente wie diese, in denen ich ihre Scham teile. Unser Resthof gleicht einer Ruine. Die Farbe blättert von den Wänden wie die Rinde von jungen Birken, dem Dach fehlen Schindeln, eine Außenwand sackt gefährlich gen Erde. Sie wird einzig durch zwei Balken gehalten, die ich letzten Herbst anbrachte. Der Zerfall ist nicht aufzuhalten. Ich kann ihn verzögern, hier und dort eine Wunde versorgen, die über kurz oder lang aufbrechen wird. Wie die Wand.

      Ob Vater aus seiner Starre erwachen und etwas tun würde, sollte sie einstürzen? Manchmal bin ich versucht, es herauszufinden, indem ich einen Balken entferne – und lasse es dann doch, zu groß ist die Angst, dass er es nicht täte.

      Ich schiebe den Schmerz beiseite und die Räder in den Stall. Scarlett ist es gewohnt, dass andere ihr vorauseilen oder hinterherräumen, und da es abgesehen von mir niemanden gibt, der sich daran stört, ignoriere ich es. Wähle deine Kämpfe. Das Motto, nach dem ich lebe. Ein Streit mit Scarlett zählt zu den Dingen, die ich meide wie der Teufel das Weihwasser.

       Du hast mich gefragt, ob mir das Schreiben gefällt. Ich konnte nicht zugeben, dass es so ist. Scarlett saß neben dir. Es war die Art, wie sie mein Tagebuch ansah.

       Als witterte sie eine Schwäche.

       Ich hasse sie dafür.

       Ich hasse auch dich, weil du es nicht bemerkst.

       Sie fragte, ob sie eines haben könne, und du hast versprochen, ein zweites zu kaufen. ›Fein‹, hat sie gesagt und gelacht und mich mit diesem Blick bedacht, der so vieles verspricht. So viel böses Blut zwischen uns.

       Ich traue ihr nicht.

       Wieso tust du es?

      Papa sitzt in seinem Arbeitszimmer, neben ihm auf dem Tisch stapeln sich die Zeitungen der letzten Wochen, darauf Dutzende schwarze Ringe: Zeugen seiner Kaffeesucht. Er blättert in einem Buch und blickt erst auf, als ich meinen Rucksack in einem Anfall von Trotz in die Ecke zwischen die Zeitschriftenstapel schmetterte. Die Dielen ächzen, als sich Papa aus dem Sessel hievt, in dem er vermutlich den ganzen Morgen saß. Manchmal fürchte ich, er kommt nur uns zuliebe aus ihm heraus. Für einen kurzen Moment, einen Kuss, eine Umarmung. Weil er die Scham nicht erträgt, die in unseren Blicken wächst. Was aus ihm werden soll, wenn wir erst fort sind, wage ich mir kaum auszumalen.

      Unbeholfen drückt er Scarlett einen Kuss auf den Scheitel. Sie verzieht den Mund und taucht unter seinem Arm hinweg in die Küche. Anna steht am Herd und lächelt, als Scarlett von hinten die Arme um sie schlingt.

      »Was gibt es?« Sie ignoriert unseren Vater.

      Er nimmt es kommentarlos hin und zwinkert mir zu, ehe er zurück in sein Zimmer schlurft und im verblichenen Blümchenpolster seines Sessels versinkt. Ich beobachte von der Tür aus, wie er den Umschlag des Buches anstarrt, das er vorgab zu lesen. Früher einmal verbrachte er jeden Nachmittag mit mir in der Werkstatt. Wir flickten Möbel, schliffen und strichen Zäune, planten ein Baumhaus. Heute liegt so dicker Staub auf der Werkbank, als wäre sie seit einem Jahrzehnt ungenutzt – was sie ist.

      Zehn Jahre sind vergangen, seit Mutter uns verließ.

      Zehn Jahre, die Vater zu einem Wrack haben verkommen lassen. Einem Schatten seiner selbst.

      »Jenna?«, fragt er heiser und blickt zu mir auf. Der Wunsch nach Ruhe steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er hofft, dass ich gehe, dass ich nicht erneut versuche, ihn aus dem Zimmer und seiner Lethargie zu befreien. Er will nicht. Er will einfach nicht.

      »Ich hab dich lieb«, sage ich deshalb.

      Er lächelt und kurz glänzen seine Augen wie früher, dann greift er nach einem Buch – einem anderen als zuvor – und klappt es ziellos auf. Fahrig gleitet sein Blick über die Zeilen, von denen ich bezweifle, dass auch nur eine einzige seinen Verstand erreicht. So sitzt er da, zwischen abgegriffenen Büchern und überfüllten Regalen, die sich unter der Last eines Jahrzehnts gefährlich biegen, ein einsamer alternder Mann, der dem Leben abgeschworen hat.

      Sorgsam schließe ich die Tür und lehne die Stirn ans Holz. Aus der Küche dringt Scarletts Lachen und Annas Stimme. Sie sprechen über die Party, das Essen, die Ferien. Unverfängliche Themen. Über Papa reden sie nie. Vielleicht fehlen ihnen die Worte. Vielleicht glauben sie, es sei besser, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Wer lange genug eine Lüge lebt, hält sie irgendwann für die Wahrheit.

      Ich fahre mit der Hand über die Blümchentapete unseres Flurs. An den Ecken blättert sie bereits ab, offenbart den grauen Putz darunter. Mutter hat sie ausgesucht. Alles hier trägt ihre Spuren: das Muster von Papas Sessel, die bunten Gemälde, die gestrichenen Stühle des Esszimmers, der Teich in der Badewanne. Ich erinnere mich nur flüchtig und unfreiwillig an sie; hier ein Bild, dort ein Fetzen. Wie sie den ersten Fisch in die Wanne setzte, wo er noch heute zwischen Sumpfgräsern und Lotusblumen golden hervorschimmert. Scarlett auf der Schaukel im Wohnzimmer, Mutter hinter ihr in einem bunten Kleid. Anna im Garten, auf der Wange einen leuchtenden Handabdruck und zu ihren Füßen ein zertretener Wildkräuterstrauß. Ich erinnere mich an Mutters Schreie, nicht jedoch an den Grund des Streits.

       Nie wieder! Tu das nie wieder!

      Ich umfasse das gedrechselte Treppengeländer. Meine Finger finden eine jede Kerbe blind. Dieses Haus liegt mir im Blut, mit all seinen schimmeligen Ecken und knarrenden Dielen. Es konserviert unsere Erinnerungen wie in Formaldehyd. Das Leben, das wir einst hatten, spiegelt sich in jedem Zentimeter. Die Striche an der Wand im oberen Stockwerk, mit denen wir unsere Größe festhielten.

      Anna. Jenna. Scarlett.

      Daneben der Elefant, den ich unbeholfen an die Wand malte, als niemand hinsah. Er erinnert mehr an einen Hasen mit zu langer Nase. Ich zeichne die blassen Linien nach, frage mich, ob sie verschwänden, sollte ich sie oft genug nachfahren, und fürchte zugleich, dass es geschieht.

      Der Gedanke ist unerträglich.

      Genauso der an die Zukunft. Ich bilde mir ein, die Jahre verfliegen zu sehen; mich selbst mit Koffern nach unserem Abschluss, kurz darauf Papa in einem Sarg; ihm folgt Anna, treu bis zum Schluss. Das Haus steht eine Weile leer, der Winter kommt, der Winter geht, ehe Maler all unsere Spuren von den Wänden tilgen, den Elefanten unter weißer Farbe begraben und mit ihm unsere Kindheit.

      »Jenna?« Anna steht am Fuß der Treppe. »Kommst du essen?«

      »Gleich.« Verstohlen wische ich die Tränen fort. Sie soll nicht sehen, dass ich weine. Sie würde es falsch verstehen, sich womöglich die Schuld geben. Und das will ich nicht.

      Wenn es etwas Beständiges in unserem Leben gibt, dann Anna. Die gute Seele des Hauses, die Mutters Aufgaben übernahm, als sie verschwand, und Papas mit dazu, als er sich und uns aufgab. Sie ist meine Halbschwester, ihre Mutter starb, bevor meine in ihr Leben trat. Wir sprechen selten darüber, zu schmerzhaft sind die Erinnerungen, zu sehr unterscheiden sie sich voneinander. Nicht zu Unrecht handeln Märchen von bösen Stiefmüttern.

      »Alles in Ordnung?« Erneut Anna, diesmal näher. Sie ist die Treppe hinaufgekommen. Ihre Hand legt sie auf meine Schulter. »Scarlett sagt, du begleitest sie zur Party?«

      »Blödsinn.« Meine Stimme klingt schrecklich erstickt.

      Anna bemerkt es nicht. »Du solltest mitgehen. Freunde treffen, ein