Das Tagebuch der Jenna Blue. Julia Adrian. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Adrian
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783959913065
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das Cape überstreifte. Jetzt trägt Scarlett die Wolfshaut und ich bin ihr unterlegen – wie Maria vorhin mir. Meine Hände sind schweißkalt, der Lenker droht mir zu entgleiten.

      »Also, begleitest du mich?«

      »Begleiten?«, echoe ich ungläubig.

      »Nun, wir haben den gleichen Weg.«

      Sie lässt den Satz verklingen. Vielleicht ist ihr selbst aufgegangen, dass wir tagtäglich den gleichen Weg nutzen, doch niemals zusammen radeln. Alles an ihrer Bitte ist falsch. Ich soll sie begleiten? Dass ich nicht lache!

      »Wie geht es deiner Nase?«, fragt Scarlett da und betrachtet mich von der Seite. Ich zwinge den Blick nach vorn. Keine Schwäche zeigen, nicht einen Zentimeter breit. »Das war wirklich ein unglückseliger Wurf. Mitten ins Gesicht. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt so viel Blut gesehen habe.«

       Ich hasse sie.

       Ich hasse sie.

       Ich hasse …

      »Derek hätte besser aufpassen müssen. Keine Sorge, das wird ihm so schnell nicht wieder passieren.«

      »Ach nein?«, zwinge ich hervor.

      »Nein.« Sie klingt fast bedauernd. »Wir sind Schwestern und ich sorge für dich. Auf meine Weise.«

      Ich schnaube. Sie seufzt.

      »Weißt du, Jenna, wir müssen nicht so sein. Zueinander, meine ich. Wir könnten –«

      »Was? So tun, als wäre nichts geschehen?«

      »Warum nicht?« Diesmal sehe ich sie an. Ihr Blick wirkt erneut fragil. Ist es nun das Laub oder der Wolfspelz, den sie trägt? Ich traue ihr nicht. Geschweige denn mir selbst.

      »Komm zur Party. Begleite mich. Wie früher.«

      Früher. Bevor unsere Familie entzweibrach. In ein Davor und ein Danach. Als Mutter noch da war und dann nicht mehr.

      Mit ihr verloren wir uns selbst.

      »Es gibt kein Zurück.« Ich bleibe stur.

      »Nein«, sagt sie und lächelt sanft. »Aber ein Weiter.«

       Wenn ich über uns nachdenke, frage ich mich oft, ob wir selbst es sind oder das Dorf, das an ein Märchen denken lässt. Wie in den alten Geschichten kennt es weder eine bestimmte Zeit noch eine bestimmte Lage. Zu klein, zu weit ab von den Wegen, zu einsam gelegen am Rande der Nordsee. Es könnte auch jedes andere Meer oder gar ein See sein, an dessen Ufern diese Geschichte ihren Anfang nahm. Bootshaus und Schule sind lediglich Nebenschauplätze, die so oder auch anders sein könnten. Einzig der Resthof, die Spukvilla und der toxische Garten dazwischen sind elementar.

       Ist es nun der Ort, der über uns bestimmt?

       Oder führen wir selbst Regie?

       Du würdest sagen, das Übel sprießt aus dem Boden.

       Ich sage, wir tragen es in uns.

       Doch ich greife voraus.

       Noch sind wir nicht so weit.

       Noch nicht.

      Die Straße wird schlechter, schweigend weichen wir den kraterartigen Schlaglöchern aus, die seit Jahren nicht ausgebessert wurden. Ich kenne ein jedes auswendig, seine Form und Tiefe und das Gefühl derer, durch die ich trotzig zu fahren pflege, in der stillen Hoffnung, es möge mich niederreißen, und triumphierend, sobald ich sie bezwungen habe. Scarlett beobachtet mich mit einer Mischung aus Mitleid und Überlegenheit. Sie meidet die Risse im Beton, während ich so viele zu passieren versuche wie möglich. Ist es Spieltrieb, der mich dazu anhält? Oder ein masochistischer, selbstzerstörerischer Drang?

      »Du solltest mehr lachen«, stellt Scarlett fest. »Was nützt das tiefste Loch, solang es keine Freude bringt?«

      »Was verstehst du schon davon.«

      »Ich weiß beispielsweise, wieso du glaubst, mich hassen zu müssen.« Sie spricht mit einer Ruhe, für die allein ich sie vom Rad stoßen könnte. »Ich komme damit klar und du nicht. Ich verfüge über Resilienz und lebe weiter, während du dich aufgibst. Mir das zum Vorwurf zu machen halte ich für fragwürdig, wenn nicht gar für unfair. Ich vermisse sie genauso, allerdings –«

      Da unterbreche ich sie: »Halt die Klappe!«

      »Jenna, ich …«

      »Lass es!«

      »Findest du nicht, wir sollten …«

      Ich trete in die Pedale, Scarlett bleibt zurück.

      Ich drossele das Tempo erst, als sich das Mauermassiv am Straßenrand erhebt. Scarlett ist überzeugt, dass unser Dorf schon vor Mutters Verschwinden verflucht war. Es ist auf keiner Karte vermerkt, nicht einmal bei Google Maps, als sei es schlicht vergessen worden, gestrichen aus dem Gedächtnis der Welt. Ein Ort des Nirgendwo, dessen einzige Besonderheit das Spukhaus ist.

      Vermooster Klinker, ein Tor aus rostigem Eisen und dahinter der geschwungene Kiesweg. Er ist gesäumt von dichten Spindelsträuchern und uraltem Silberregen, durch den der Wind träge streicht. Mehr ist von der Straße nicht zu erkennen. Innerhalb der Sphäre unseres Dorfes spinnen sich unzählige Legenden um das Spukhaus und seinen Besitzer.

      Dass jeder, der das Grundstück betritt, dem Tode geweiht ist, hält sich hartnäckig als Gerücht. Ich kann es weder bestätigen noch Lüge strafen, obwohl ich direkt daneben wohne und manch wagemutigem Dorfkind beim Erklimmen der Mauer zusah. Die meisten scheiterten bereits beim Aufstieg, ob aus Furcht oder aufgrund der Höhe, ist ungewiss. Einige schafften es auf die Krone, doch von denen sah ich niemals einen auf der anderen Seite verschwinden. Es galt bereits als höchster Beweis des eigenen Mutes, dort oben zu sitzen und die Beine über dem Ginster baumeln zu lassen.

      Scarlett behauptet, einst durch einen Spalt in den Nachbarsgarten geschlüpft zu sein, sie verbot mir jedoch, darüber zu sprechen, und ich, damals noch ihre engste Vertraute, habe bis heute geschwiegen.

      Nun, Scarlett lebt noch. Bedauerlicherweise.

      »Wartest du auf mich?«, fragt sie und hält neben mir an.

      »Warst du im Garten der Spukvilla?«

      Sie hebt eine Braue. »Das interessiert dich? Nun, ich verrate es dir, wenn du mich begleitest.«

      »Mich interessiert einzig, ob du bald stirbst.«

      Sie gluckst. Dabei meine ich es todernst.

      »Hör zu«, Scarletts Augen blitzen vergnügt, »ich verrate dir alles, was du über den geheimen Garten wissen willst. Ich zeige dir sogar den Spalt – falls es ihn gibt –, solang du mich begleitest.«

      Verschwörerisch zwinkert sie, als wäre das alles ein Heidenspaß. Gott, ich hasse sie wirklich dafür, dass es ihr leichtfällt. Dass sie lacht und tanzt und lebt, als läge unsere Welt nicht in Trümmern.

      »Abgemacht?«, fragt sie und streckt mir die Hand entgegen. Ich kann aus Prinzip nicht annehmen. Scarlett bekommt immer, was sie will – nur bin das aus irgendeinem unverständlichen Grund diesmal ich.

      »Warum?«, frage ich.

      »Das war kein Nein«, stellt sie zufrieden fest, kreuzt die Arme über dem Lenker und stützt den Kopf darauf. So sieht sie mich an, schräg von unten, die Augen zu wach für die scheinbare Gelassenheit. »Du glaubst doch an Zeichen, nicht wahr? Betrachte es als eines. Wir sollen gemeinsam zu dieser Party gehen. Du und ich. Wie …«

      Das Früher