Auf einer Unterseite fand er Texte, die offenbar aus dem Nachlass der Sonnentempler stammten: »Transit in die Zukunft«, »Das Rosenkreuz«, »An alle, die die Stimme der Weisheit noch zu hören vermögen …«, schließlich sogar eine Abschrift des Briefs der Selbstmörder von Saint-Casimir an die Behörden von Québec vom März 1997.
Wer stellte so etwas ins Netz? Wozu? Und vor allem: Wer schaute sich so etwas an?
Kapitel 7
Thomas Brunegg ließ den sanften Sprühregen noch einige Sekunden lang seinen Körper massieren, dann stellte er die Regenwald-Dusche ab, schwang sich ein Handtuch um die Hüfte und ging zurück ins Schlafzimmer, wo er sich auf einen der Vitra Lounge Chairs setzte und die Nachrichten auf seinem Handy checkte. Auf dem Tisch stand vom Vorabend noch die leere Champagnerflasche neben dem Eiskübel und drei Gläsern. Am Boden, zwischen Reizwäsche und anderen Kleidungsstücken, lagen Handschellen, Lederriemen und Kondome, auf dem runden King-Size-Bett die beiden Frauen von Esplendid-Escort. Die eine, eine dunkelhaarige Tschechin, hatte sich in die Jersey-Decke eingewickelt und ließ nur einen Fuß sehen, die andere lag nackt auf dem Bauch, eine Nordafrikanerin, deren Rückgrat im gedämpften Licht eine perfekte Wellenlinie bildete.
In Gedanken ließ Thomas Brunegg die wilde Nacht Revue passieren, dann las er weiter. Roth hatte geschrieben wegen des Kredits. Thomas überlegte sich, wie er ihn am besten dazu bringen konnte, zu tun, was er wollte.
Währenddessen hatte sich die Tschechin aus der Decke gewickelt. Sie zog sie sich wie einen Umhang über eine Schulter, tänzelte zu ihm herüber und schmiegte sich an ihn. »Hey, Sweetheart …«
Er schob sie unsanft weg. »Zieht euch an und verschwindet!«
Jetzt war auch die andere wachgeworden – er konnte sich nicht an den Namen erinnern, wahrscheinlich Vanessa, Samantha, Sandy, irgend so was. In seiner Vorstellung hießen alle Nutten so. Sie setzte sich auf den Bettrand, ein wildes Tier. Aber dann machte sie alles zunichte, indem sie fragte, ob er gut geschlafen habe.
»Verpisst euch!«, schrie er und schlug mit der Hand auf den Glastisch, dass das Sektglas auf den weißen Shaggy fiel, ging mit dem Handy in die Ankleide und knallte die Tür hinter sich zu. Er bezahlte nicht fünfstellige Beträge, um am nächsten Morgen den Babysitter für die Tussen spielen zu müssen. Aus dem Wandschrank suchte er Unterwäsche, eine dünne Leinenhose und ein gebügeltes Poloshirt, wählte Roths Nummer und stellte das Handy auf Lautsprecher, um sich während des Gesprächs anzuziehen.
Der Arzt war sofort am Apparat und wiederholte seine Bitte, die Rückforderung des privaten Kredits aufzuschieben.
Thomas Brunegg gab vor, nicht zu verstehen, was Roth wolle. »Die Bedingungen sind doch klar.«
Natürlich hatte Roth das Geld nicht. Er hatte sich verspekuliert, sich eine teure Wohnung, einen Sportwagen leisten wollen, um seiner Freundin zu imponieren. Brunegg hatte ihm ausgeholfen, gegen gewisse Dienstleistungen, und nun bettelte Roth um Stundung. Er behauptete, Brunegg habe ihm eine flexible Rückzahlung versprochen.
»Die Dinge haben sich geändert, das Geld ist fällig.«
Vom Schlafzimmer her hörte er die beiden Mädchen tuscheln.
»Das ist nicht mein Problem«, sagte er kühl.
Roth bemühte die Freundschaft, die Zunftbruderschaft. Brunegg schlüpfte in ein Paar Louis Vuitton Loafers. Wie erwartet verlegte sich Roth nach einer Weile aufs Drohen.
»Es ist umgekehrt«, erklärte Brunegg ruhig. »Wenn du dich nicht an meine Regeln hältst, dann lasse ich deinem Spital Informationen zukommen, über unsauber deklarierte Medikamente, andere Unregelmäßigkeiten … Du weißt schon.«
Er kämmte sich das Haar, zog einen Seitenscheitel und brachte mit beiden Händen Gel auf, während Roth zappelte und sich wand.
»Es gibt keine Hinweise auf mich, das weißt du genau! Das ist nicht mein Problem, wie gesagt.«
Ob er wenigstens sicher sein könne, dass die Sache aus der Welt wäre, wenn er das Geld irgendwo beschaffen würde, fragte Roth.
»Ich werde es mir überlegen.«
Endlich erkannte Roth, dass er nicht mehr rauskommen würde, egal was er machte. Brunegg sei ein Teufel, meinte er, er höre nie auf.
Thomas lachte nur. Er hatte Roth genau dort, wo er ihn haben wollte. »Teufel ist gut. Aber du hast recht, ich werde vielleicht nie aufhören. Das hättest du dir vorher überlegen sollen.«
Als der Arzt ausfällig wurde und ihn als verdammtes Arschloch betitelte, legte Brunegg auf. Er ging durch das lichtdurchflutete Wohnzimmer. Auf dem Tisch war das Frühstück angerichtet, Speck, Rühreier, Kaffee, Toast, Backwaren. Er nahm sich ein Vollkornbrötchen. Auf der anderen Seite der Villa war ein Angestellter auf der Sonnenterrasse dabei, mit einem langen Wischer den Pool zu reinigen.
Kurz darauf fuhr Thomas Brunegg mit seinem BMW Cabrio von der Villa über dem Zürichsee los und durch die Rebberge Richtung Seestraße. Der Zürichsee lag spiegelglatt zwischen den Hügelzügen, die Gipfel der Innerschweizer Alpen waren im Dunst nur zu erahnen. Auf der Höhe eines großen Bauernhofs kam ihm eine Limousine mit abgedunkelten Scheiben entgegen. Esplendid-Escort holte seine Ladys ab.
Es herrschte wenig Verkehr auf der Seestraße. Brunegg donnerte mit überhöhter Geschwindigkeit Richtung Stadt. Auf der Höhe von Erlenbach musste er allerdings wegen des Lastwagens einer Blumenhandlung stark abbremsen. Zwei Kleinwagen trauten sich offenbar nicht zu überholen. Er hupte, fuhr nahe auf, schwenkte Richtung Mittellinie, um nach vorne zu schauen, und drückte dann das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf, der Wagen überholte die drei Fahrzeuge. Wie in Zeitlupe nahm er das entgegenkommende Fahrzeug wahr. Er drückte das Gaspedal ganz durch, die Scheinwerfer des anderen fest im Blick, spürte das Adrenalin, den Kick. Im allerletzten Moment schwenkte er wieder ein. Der andere war auf die Bremse gegangen, auf den Pannenstreifen gelangt und hupte langanhaltend. Thomas Brunegg raste fröhlich die letzten Kilometer Richtung Zürich.
Kapitel 8
Orte um den Zürichsee, an denen vorrömische Naturheiligtümer, Ritualplätze, Steinkreise oder Kulthügel nachgewiesen werden können, sind ausnahmslos in Relation zu Sonne oder Mond gesetzt, sind ausgerichtet auf den Sonnenaufgang an Mittwinter, die große südliche Mondwende und andere Einschnitte im astrologischen Kalender. Sie zeugen davon, dass lange vor unserer Zeitrechnung, wahrscheinlich schon in den matriarchalen Gesellschaften der Jungsteinzeit, ein tiefes Bewusstsein für das harmonische Zusammenspiel der Jahreszeiten, der Lebewesen wie auch der Gestirne bestand. Oft sind es Kraftorte mit besonderer feinstofflicher Energie. Eine solche Stelle mit Kraftwerten von bis zu 700.000 Boviseinheiten (!) befindet sich nur wenige Kilometer außerhalb von Zürich, auf der Forch bei Aesch. Hier kreuzen sich nämlich mehrere sogenannte Ley-Linien, Energie-Adern, die prähistorische Kraftorte wie Stonehenge, die Pyramiden, die Extern-Steine oder das Labyrinth von Chartres verbinden. Der Architekt Otto Zollinger, der 1922 beauftragt wurde, dort ein Denkmal für die Zürcher Gefallenen des Ersten Weltkriegs zu bauen, muss die spirituelle Bedeutung des Ortes erkannt haben; ist die 18 Meter hohe Flamme auf dem Stufensockel doch nichts anderes als ein Obelisk, Symbol für die Verknüpfung der materiellen mit der geistigen Welt.
Auch Otto Froebel, der Ende des 19. Jahrhunderts den Garten der Villa Brunegg entworfen hatte, musste tiefe Ahnung vom geheimen Zusammenwirken universeller Prinzipien gehabt haben. Im Gegensatz zu anderen Zürcher Villengärten dieser Epoche war derjenige der Villa Brunegg ein wahrer Mikrokosmos voll innerer Harmonie und Symbolik. Im Zentrum, als Herzstück, die Rosenbeete; in jeder Himmelsrichtung ein Wasserelement: der Springbrunnen beim Haus vor der unteren Loggia, das flache Bassin auf der Westseite, die Nymphengrotte hinter dem Laubengang in Osten, der großzügige Neptunbrunnen in Norden. Dahinter der kleine Tempel auf dem Belveder. Geschwungene Wege, kleine Stützmauern, Kaskaden, Statuen antiker Gottheiten von einem venezianischen Bildhauer, Symmetrie ohne Starrheit. Eine Anlage, dafür geschaffen, die großen Einschnitte im Kalender zu begehen, wie die Sommersonnenwende