Wie er ihn einschätzte, würde Werner Wüst zwar seinen exzentrischen Freund verfluchen, sich aber dann arglos auf den Weg in seinen eigenen Untergang machen.
Jetzt kauerte der nächtliche Verschwörer neben der Garage auf Wüsts Grundstück. Der leichte Nieselregen hatte die Schulterpartie seines dunkelgrünen Parkas durchweicht.
Auch durch die schwarzen Jeans fühlte er schon die Nässe kriechen. Nur seine Gore-Tex Stiefel hielten ihn noch warm.
Er warf einen Blick auf die Natursteinplatten vor der Garage. Wenigstens hinterließ er keine Fußspuren im durchweichten Rasen. Das Gartentor hatte offen gestanden und ihm problemlos Zutritt zum parkartigen Grundstück gewährt. Die kugelig gestutzten Buchsbüsche gaben ihm Sichtschutz. Er hasste ihren moderig bitteren Geruch. Sie erinnerten ihn an die Friedhofbesuche, die er jeden Sonntagnachmittag an der Hand seiner Mutter machen musste. Aber jetzt war keine Zeit für Sentimentalitäten.
Wo blieb das Arschloch? Er warf einen Blick auf seine falsche Rolex, die er von einem Türkeiurlaub mitgebracht hatte. Der Typ ließ sich Zeit.
Dann gingen im Bungalow die Lichter aus und das Garagentor schob sich wie von Geisterhand nach oben. Er ließ sein Messer aufschnappen, sprang auf und schlüpfte gebückt durch den Spalt unter dem Tor. Gleichzeitig ging die Garagenbeleuchtung an.
Wüst, der durch eine Verbindungstür zum Haus in die Garage trat, konnte auf den Überraschungsangriff nicht mehr reagieren. Der Angreifer, der sich neben der Tür postiert hatte, sprang auf ihn zu, packte den fülligen Mann von hinten und hielt ihm das Messer an den Hals.
Sein Opfer war für den Nachtausflug auf Burg Hohenneuffen passend gekleidet. Er trug eine gelbe Regenjacke und blaue Jeans. Gegen die Kälte hatte er einen blauen Kaschmirschal um den Hals gebunden. Nur seine weißen Schuhe passten nicht recht zu dem Outfit.
»Jetzt keinen Mucks!«, zischte ihm der Eindringling ins Ohr und schubste ihn in Richtung Kofferraum des Autos von Wüst. Der überrumpelte Mann gehorchte ihm widerspruchslos. Er riss ihm den Autoschlüssel aus der Hand und drückte das Kofferraumsymbol. Der öffnete sich automatisch. Das kam ihm sehr gelegen.
»Was?«, krächzte Wüst.
»Rein da!«, kommandierte er und gab Wüst einen Stoß. Der Dicke kippte nach vorne und fiel fast wie von selbst in den Kofferraum. Er verstaute noch die Beine seines Opfers, schlug den Deckel zu, setzte sich ans Steuer und ließ den Motor an. Das alles hatte keine Minute gedauert. Langsam rollte er aus der Garage. Das Tor schloss sich hinter ihm lautlos und das Grundstück lag wieder in nächtlicher Ruhe. Niemand hatte etwas von der Entführung bemerkt.
20 Minuten später bog er mit der Luxuslimousine auf den Parkplatz unterhalb der Burg Hohenneuffen ein. Er schaltete die Scheinwerfer aus.
Zwei Mastleuchten verbreiteten ein milchiges Licht. Ansonsten lag die Umgebung im Dunkeln. Er stieg aus und näherte sich dem Kofferraum. Seit zehn Minuten hatte das Klopfen und Schreien im Kofferraum aufgehört. Welche Taktik verfolgte sein Opfer? Entweder es war bewusstlos geworden oder plante einen Angriff. Er musste vorsichtig sein.
Er trat einen Schritt zurück und öffnete mit der Fernbedienung den Kofferraum. Tatsächlich, eine hervorschnellende Faust suchte ein Ziel außerhalb des Autos.
Geistesgegenwärtig machte er einen Schritt nach vorne und griff sich den dazugehörigen Arm. Er bog ihn auf den Rücken des liegenden Mannes, wie er es beim Kickboxen geübt hatte.
»Saukerl! Willst du das zu spüren bekommen? Aussteigen!«, sagte er übertrieben laut.
Dabei klappte er sein Schnappmesser auf. Angesichts der Drohungen kletterte Wüst ächzend aus dem Kofferraum. Er bot einen erbärmlichen Anblick. Der Schal hing ihm schief um den Hals und der Reißverschluss der Regenjacke war fast aufgegangen. Trotzdem hätte er am liebsten auf ihn eingeprügelt. Aber er beherrschte sich. Um seinen Plan ausführen zu können, musste Wüst erst einmal oben auf der Burg sein.
Mit dem Messer in der Hand dirigierte er den Überrumpelten die gepflasterte Auffahrt zum Burghof hinauf. Vorher drückte er ihm eine Stretchtaschenlampe in die Hand, die dieser wie ein Laternchen der sieben Zwerge vor sich hertrug.
Der kleine Dicke schnaufte auf dem steilen Weg schon nach den ersten Schritten. Wenigstens hatte es zu regnen aufgehört. Erbarmungslos trieb er ihn den Berg hoch. Das hatte er verdient!
»Das gefällt dir nicht, du Betrüger!«, presste er hervor und lachte bitter auf. Die Schritte hallten in der Dunkelheit und die beiden Gestalten warfen lange Schatten auf das unebene Pflaster. Er forcierte das Tempo.
»Was wollen … Sie … von mir?«, fragte Wüst atem- und tonlos.
»Das ist meine kleine Überraschung!«, antwortete der Entführer. Sein Grinsen konnte man nur erahnen.
Die Umrisse des Burgfrieds tauchten im Dunkel über ihnen auf. Der Vollmond stand am Himmel und beleuchtete die Szene. Irgendwo bellte ein Hund und in der Ferne knatterte ein Motorrad.
Dann standen sie im Burghof zwischen den maroden Burgmauern. Überall lagen Schutt und Baumaterialien. Neben einem Bauwagen waren Gerüststangen und Zementsäcke gestapelt. Aus der Burgmauer war ein Stück herausgebrochen, das wohl saniert werden sollte.
»Da vor zur Kante!«, befahl er. Der steile Abhang dahinter war nur mit Flatterband gesichert. Ob das den Bauvorschriften entsprach, schoss es ihm durch den Kopf.
Das ungleiche Paar blieb einen Meter vor dem Abgrund stehen. Er holte das sorgfältig verwahrte Holzstück aus der Innentasche seiner Jacke.
»Zieh Schuhe und Strümpfe aus und stell sie dorthin!« Er deutete auf eine imaginäre Stelle am Boden.
Mit einem verständnislosen Blick legte Wüst die Taschenlampe auf den Mauerresten ab und öffnete den Mund zu einer Frage. Der Entführer hob drohend sein Messer. Wüst schloss resigniert den Mund und folgte dann im Zeitlupentempo dem Befehl seines Peinigers. Er stellte die weißen Mokassins ordentlich nebeneinander auf den Kies, faltete die blaugestreiften Armanisocken akkurat und legte sie daneben. Nervös nahm er seinen dunkelblauen Kaschmirschal ab und band ihn dann wieder sorgfältig um den Hals. Er zerrte die Jeans über den massigen Bauch nach oben und zog den Reißverschluss der gelben Regenjacke bis unters Kinn.
»Was …«, setzte er an.
»Dreh dich um und quatsch keine Opern! Sag mir lieber, wo die Akten sind!«, kommandierte der Mann hinter ihm. Die Geisel glotzte ihn verständnislos an.
»Welche Akten?«, krächzte er und zuckte ratlos mit den Schultern. So ein Heuchler, so ein kaltschnäuziger Schauspieler! Eine Welle des mühsam unterdrückten Zorns schwappte jetzt in dem Entführer hoch.
Wie von selbst öffnete sich sein Mund und er brüllte sein Anklagepamphlet lautstark in die Nacht. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, sein ganzer Körper bebte.
Das Holz in seiner Hand zitterte. Als Kind hatte er in den langen Sommerferien, den Feragosto, bei zio Massimo, seinem Onkel, das Töten gelernt. Mit einem Kantholz bewaffnet stand er damals neben dem Hackstock. Er hatte die Aufgabe, dem in Todesangst gackernden und scheißenden Huhn einen Betäubungsschlag zu verpassen. Mit einem gezielten Beilhieb trennte Massimo dann den Kopf ab.
»Umdrehen!«, befahl er am Ende seiner Tirade mit vor Wut zitternder Stimme.
Wüst starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Er hatte von dem Geschrei nur die Hälfte verstanden. Dann drehte er sich widerstrebend zum Abgrund.
Die Frage nach den Akten blieb unbeantwortet.
Im nächsten Moment krachte der Schlag auf Wüsts Hinterkopf. Der Dicke wankte und kippte dann nach vorne. Jetzt hatte der Angreifer leichtes Spiel. Wie in Trance packte er die Füße seines Opfers und gab dem Körper einen Stoß. Der Leblose fiel den Abhang hinunter und schlug unten mit einem dumpfen, knackenden Geräusch auf.
Keuchend