So beschloss er, das Gespräch ohne persönliche Anrede zu beginnen und sich dann auf seine Erfahrung als Ermittler zu verlassen.
»Vielen Dank für den Hinweis! In den Keller stelle ich es später«, keuchte er. »Ich muss später noch mal los, die Pizzas bei ›Da Giovanni‹ abholen. Für die Umzugsleute, die von der Firma ›Federleicht‹.« Wenigstens hatte er den Namen des Umzugsunternehmens noch parat.
»Die Firma kenn ich, den Panagiotis und den Aristos Treggelidis, gutes Team. Da haben Sie sich aber heute schlechtes Wetter ausgesucht. Die Eisheiligen sind in diesem Jahr sehr pünktlich. Mamertus, Pankratius, Servatius, Bonifatius und die kalte Sophie machen ihrem Ruf alle Ehre«, sagte der Mann, ohne einmal zu stocken. Wilde erblasste innerlich vor Neid über so viel Gedächtnisleistung.
»Wenn Sie was brauchen, ich bin rund ums Haus beschäftigt. Ich geb Ihnen meine Karte, falls was sein sollte.« Er griff in seine Gesäßtasche und nahm aus dem Geldbeutel eine grüngestreifte Visitenkarte. Wie ein Ertrinkender griff Wilde nach dem Kärtchen.
»Holger Kostka, Gartenbautechnik«, las er laut. Darunter standen Telefonnummer und E-Mail-Adresse.
»An einer Webseite arbeitet meine Frau noch«, ergänzte Holger Kostka stolz.
»Na dann, Herr Kostka«, antwortete Wotan Wilde schnell, »vielen Dank und frohes Schaffen.«
»Ebenso!«, entgegnete der Gartenbautechniker, tippte an einen imaginären Hutrand und verschwand mit seinem Eimer im Flur.
Wotan zögerte einen Augenblick, war aber dann zu träge, um die Visitenkarte sorgfältig im Geldbeutel zu verstauen. Er öffnete nur den Reißverschluss der Seitentasche seiner Jacke und ließ sie neben sein Smartphone und den Schlüsselbund gleiten.
»Wie soll ich mir nur diesen Namen merken?« Wilde fiel beim besten Willen keine Eselsbrücke dazu ein.
Der Umzugswagen beanspruchte jetzt seine Hauptaufmerksamkeit. Gerade bog er in die noch unbefestigte Straße am Alten Güterbahnhof ein und rumpelte durch die Pfützen.
»Kiri, Kiri, komm her!«, rief eine schrille Stimme im Treppenhaus. Ein braun-weiß gefleckter Hund galoppierte an Wilde vorbei. Er hielt auf den Laternenpfahl zu, hob sein Beinchen und pinkelte in hohem Strahl gegen den Pfahl. Der Hinterreifen von Wotans Rad bekam auch eine Dusche ab.
Der Hund, ein Jack Russell-Mischling, scharrte mit beiden Hinterbeinen, wie es sich für einen anständigen Köter gehörte. Er drehte sich um und stolzierte gelangweilt den Gehweg entlang.
Dann entdeckte er Wotan Wilde und seine bestrumpften Waden. Freudig mit dem Schwanz wedelnd, lief er auf ihn zu und begann, an seinen Beinen zu schnüffeln. Wilde zuckte vor der kalten Schnauze zurück.
»Aus, Kiri! Hierher, Kiri!« Eine hochgewachsene junge Frau in rotgepunkteter Regenjacke und ebensolchen Gummistiefeln trat aus der Tür. Sie hielt eine Leine in der Hand und schob mit der anderen die Träger eines Rucksacks auf den Rücken.
»Kiri liebt Männer im Radlerdress«, wandte sie sich entschuldigend an Wilde.
»Sein früheres Herrchen war Rennradfahrer, aber dann … das Herz … Wir haben Kiri aus dem Tierheim geholt«, erklärte sie. Wilde nickte und wischte sich den Sabber vom Knie. Eigentlich interessierte ihn das gar nicht.
»Tütüt!«, ertönte es gleich darauf hinter ihm. Geistesgegenwärtig trat Wotan einen Schritt beiseite, um nicht von einem Bobbycar samt Anhänger überfahren zu werden. Der Knirps am Lenkrad hatte eine etwas zu große gelbe Regenjacke an. Von den Gummistiefeln grinsten Minimonster. Er trug eine Papierkrone, hatte einen Schnuller und eine Schniefnase und lenkte das Gefährt mit aller Kraft auf den Gehweg.
»Nur bis zur Kurve, dann anhalten, Joel!«, rief die Frau und schob sich die verstrubbelten schulterlangen Haare aus der Stirn. Sie bückte sich und legte dem nun lammfrommen Kiri die Leine an.
»Mama, Mama! Warte doch! Ich will auch mit!«, beschwerte sich ein kleiner Junge, der jetzt im Hausflur auftauchte. Wotan kannte sich mit Kindern nicht so genau aus, aber er schätzte ihn auf Kindergartenalter. Der Zwerg blieb stehen, öffnete den Reißverschluss eines grünen Geldbeutels und schüttete Münzen in seine Hand.
»Jetzt komm schon, Fynn!«, mahnte die Frau ungeduldig, »du darfst dir nachher im Laden eine Brezel kaufen.«
»Lieber eine Süßigkeit, Mama, das ist doch mein Geld«, maulte der blonde Junge.
Dann stampfte er auf, dass die Blinklichter an seinen Stiefeln mit Drachenmotiv rot blinkten.
»Schau mal, ich kann Feuer speien!«, erklärte er Wotan mit einem treuherzigen Blick. Seine Mama wandte sich Wotan zu.
»Hallo, guten Morgen. Ich bin Emily McScott. Wir wohnen seit gestern im Erdgeschoss. Ist alles noch etwas chaotisch«, erklärte sie, lächelte schief und hielt ihm die Hand zur Begrüßung hin. Wotan Wilde setzte ebenfalls zur Begrüßung an.
Bevor er aber ihre Hand nehmen konnte, rief sie erschrocken: »Halt, Joel, nicht auf die Straße!« Die Kuscheltiere im Anhänger purzelten durcheinander, als der Knirps sein Gefährt gefährlich nahe an den Bordstein lenkte.
Mittlerweile hatte der Umzugswagen das Haus Nummer 17 erreicht und bremste. Der Lastwagen kam direkt neben dem kleinen Rennfahrer zum Stehen.
Der erschrak und stimmte ein lautes Geheul an. Er krabbelte vom Bobbycar und rannte zu seiner Mutter. Er umschlang ihre Knie, drückte sein Gesicht gegen den Regenmantel und brüllte weiter. Wotan Wilde zuckte zusammen. Dass ein so kleiner Wicht so laut brüllen konnte, hätte er nicht für möglich gehalten. Nach einigen Streicheleinheiten seiner Mutter und Trost-Gummibärchen beruhigte sich der Minikönig wieder.
Frau McScott lenkte das Bobbycar nebst Anhänger unter die Briefkästen im Flur und stellte es dort ab.
»Das bleibt erst mal hier!«, sagte sie zu seinem Lenker, der diese Tatsache wieder mit Geschrei beantwortete. Frau McScott verabschiedete sich von Wilde mit einem kleinen Lächeln. Dann marschierte die kleine Truppe den Weg entlang und bog am Café »Zur Dampflok« links ab.
»McScott«, dachte Wotan, den Namen konnte er sich gut merken. Von einer gleichnamigen Firma gab es hervorragende Radlerschuhe.
Inzwischen waren neue dunkle Wolken über den Neckar herangezogen. Ein Regenschauer ging nieder.
Warum die Tür so schwarz sein musste wie der Eingang zur Unterwelt, würde er nie begreifen. Aber das korrespondierte ja prima mit den dunkelgrauen Wänden im Treppenhaus. Für das Treppengeländer hatte der Architekt Ewald Fürchtenschied ein optimistisches Steingrau gewählt.
Wilde blieb im Vorraum stehen. Draußen goss es in Strömen. Die Scheibenwischer am Umzugsauto arbeiteten auf Hochtouren.
Panagiotis bedeutete Wilde durch Handzeichen, dass sie den Wagen wenden würden, um so besser ausladen zu können. Er paffte eine imaginäre Zigarette und wollte Wilde so vermitteln, dass er wohl noch schnell eine rauchen wollte. Sollte er tun! Bis sich das Unwetter gelegt hatte, konnte er das Auto sowieso nicht verlassen. Wilde nickte. Die Gebrüder Treggelidis steckten sich Zigaretten an. Der Rastaman starrte aufs Display seines Smartphones.
So ein Zigarettchen hätte Wilde jetzt auch gutgetan.
Er schnupperte nach dem schwachen Rüchlein, das aus dem Spalt des geöffneten Autofensters herüberzog. Die letzte Fluppe hatte er vor zehn Jahren nach der Beerdigung seines Vaters ausgedrückt. Einen zweiten Lungenkrebs in der Familie wollte er seiner Mutter nicht zumuten.
Wotan kramte in der Jackentasche. Er entdeckte ein Salbeibonbon, wickelte es aus dem silbernen Papier und lutschte gierig. Sein Magen meldete sich grollend. Pizza würde es erst später geben, wenn sie fertig waren.
Er drehte sich um und studierte die Namensschilder auf den hellgrauen Briefkästen, die nebeneinander an die Wand geschraubt waren.
»John, Emily, Fynn, Joel, Hedda McScott«, stand in zierlichen Druckbuchstaben auf dem Schild des Briefkastens ganz links.