Reschke liebt die »Big Nudes«, die ein Treppenhaus oder ganze Wände einnehmen, kann sich an ihnen nicht sattsehen. Ein bisschen kommt es ihr so vor, als sähe sie sich selber nackt im Spiegel. In einer Kleinausgabe natürlich, was nicht allein am Format der Bilder liegt. Doch obwohl Reschke höchstens halb so groß wie die Modelle ist, in die Newton allem Anschein nach wie sie vernarrt war, hat sie eine vergleichbare Figur.
Athletisch passt am besten, findet sie, breite Schultern, flacher Bauch und Läuferinnenbeine.
Dazu besitzen die »Big Nudes« allerdings Brüste, für die Reschke morden würde. Bevor sie die Aufnahmen kannte, wusste Reschke gar nicht, dass eine solche Kombination auf natürlichem Weg überhaupt möglich war. Reschkes Brüste sind klein und fest. Manchmal denkt sie deshalb, dass es besser gewesen wäre, sie hätte die »Big Nudes« nie zu Gesicht bekommen. Reschke hat sich schon gefragt, ob sie sich weniger mag, seit sie auf Newtons Frauen gestoßen ist. Das vielleicht nicht, hofft sie, aber ihre Vorlieben haben sich verändert. Mit einer der »Big Nudes« ins Bett zu gehen, stellt sie sich überirdisch vor.
Reschke zuckelt die Großbeerenstraße entlang. Seit sie abgebogen sind, gibt es so gut wie keinen Verkehr mehr. Alles ist friedlich und still. Nicht einmal ihr Wagen macht noch irgendein Geräusch, weil er über eine geschlossene Schneedecke rollt.
3. Kapitel
Hartenfels steigt aus und versinkt im Schnee. Reschke hat direkt am Viktoriapark angehalten und der stillgelegte Wasserfall, vor dem sie stehen, gleicht einer Schneise, die jemand in die Bäume geschlagen hat. Ginge auch als Skipiste durch, denkt Hartenfels, während er Ausschau nach einer Art Trampelpfad hält, den er nehmen könnte. Mit seinen Halbschuhen will er sich nicht durch 50 Zentimeter Neuschnee quälen.
»Hier lang, Chef«, sagt Reschke und weist auf eine Reifenspur, die in das Parkgelände führt.
Einen Augenblick überlegt Hartenfels, ob sie nicht zurück zum Auto sollten, um ihr zu folgen, muss sich dann aber eingestehen, dass ihr Dienstwagen garantiert stecken bleiben würde. Mit einem Bulli der Bereitschaftspolizei kann er es nicht aufnehmen. Er geht Reschke nach, die bereits einen guten Vorsprung hat.
Weil es weiterschneit, ist für Hartenfels die Umgebung kaum zu erkennen. Als er an einer Art Gehege vorbeikommt, hält er vergeblich Ausschau nach den dort eingesperrten Tieren. Es gibt höchstens ein paar Spuren im Schnee, die von Hühnern oder anderem Geflügel stammen könnten. Hartenfels erinnert sich daran, schon einmal im Sommer dagewesen zu sein und einen Pfau gesehen zu haben, der ein wunderschönes Rad schlug. Dafür ist es heute viel zu nass und viel zu kalt. Hartenfels kennt sich mit dem Balzverhalten eines Pfaus nicht aus, könnte sich jedoch vorstellen, dass es witterungsabhängig ist.
»Früher gab es hier sogar Nutrias«, hört er Reschke, die wie er stehen geblieben ist.
»Nutrias?«, fragt Hartenfels.
»Irgendetwas zwischen Biber und Ratte. Bloß mit ekligen gelben Zähnen.«
Hartenfels weiß nicht, wovon seine Kollegin spricht.
»Haben wir Ossis früher gegessen«, fährt sie fort.
»Und wie schmeckt das?«, will er wissen.
Reschke zuckt nur die Achseln. Mit den Vorlieben ihrer Brüder und Schwestern kennt sie sich allem Anschein nach nicht gut aus.
Kein Wunder, denkt Hartenfels, soweit er weiß, hat sie mit ihren Eltern die DDR schon vor der Wende verlassen.
Sie setzen sich wieder in Bewegung, passieren noch ein Gehege, in dem sie Ziegen entdecken und einen Bär. Ein Bär? Hartenfels kneift die Augen zusammen und ihm wird klar, dass er nicht echt ist. Der Bär ist aus Holz. Er schüttelt den Kopf, betritt endlich freies Gelände, ohne dass es merkbar heller würde. Er erahnt ausgedehnte Wiesen, die steil ansteigen, kann sich aber täuschen, weil seine Sichtweite deutlich unter 20 Metern liegt. Er wischt sich zum x-ten Mal Schnee vom Schädel. Zum Glück sind die Reifenspuren nach wie vor gut sichtbar, die ihn zuvor bereits am Tiergehege vorbeigelotst haben. Noch ein paar Schritte und Hartenfels entdeckt einen Polizeibulli, der mit laufendem Motor mitten im Park abgestellt wurde. Reschke und er halten auf das Fahrzeug zu und bemerken Fußspuren, die von dem Wagen aus nach oben führen. Hartenfels gibt sich Mühe, in sie zu treten, Reschke ist jetzt hinter ihm.
Hartenfels sieht nach oben in eine Sonne, die bleich und kraftlos über ihm schimmert. Wolken jagen vorbei und verdecken sie, dann reißt der Himmel auf. Hartenfels schließt geblendet die Augen, läuft aber weiter, immer höher die Wiesen hinauf. Weil Entfernungen in dem gleißenden Licht nicht leicht abzuschätzen sind, weiß er inzwischen nicht mehr, wo er sich befindet. Er kann nur hoffen, dass die Personen, die vor ihm nach oben gestiegen sind, ein klares Ziel hatten. Am besten den Fundort der Leiche.
Davon angestrengt, bei jedem Schritt aufwärts den Fuß bis zu den Knien anzuheben, macht Hartenfels eine Verschnaufpause und dreht sich um. Er hat schon ein gutes Stück Höhe gewonnen und erkennt die Bäume, die den Park begrenzen. Sogar den Funkturm sieht er. Da keine neuen Wolken die Sonne verdunkeln, bleibt es hell, und auch der Schneefall hört auf. Hartenfels wischt sich ein letztes Mal über den Kopf und wendet sich erneut der steil ansteigenden Wiese zu. Kaum 20 Meter vor ihm kommen Menschen in sein Blickfeld, die bis jetzt nicht zu sehen waren. Hartenfels macht vier Uniformierte aus, wahrscheinlich die Besatzung des Polizeifahrzeugs, und einen Mann in Zivil.
Der Mann ist fast so groß wie er, aber schmal. Hoch aufgerichtet befindet er sich ein Stückchen oberhalb der Beamten und überragt sie mühelos. Die langen Haare hängen dem Mann bis auf die Schultern und er trägt einen schwarzen Hut, dazu einen ebenfalls schwarzen Mantel und Stiefel. Hartenfels geht weiter und lässt die Gestalt nicht aus den Augen. Der Mann spricht nicht, stiert bloß in die Ferne, ohne dass er etwas Besonderes wahrzunehmen scheint. Wässrige Augen von blassem Blau schauen so teilnahmslos, dass Hartenfels eine gewisse Tragik spürt. Den Mann umgibt eine Aura verhaltener Melancholie. Hartenfels erkennt das, weil es Fotos von ihm gibt, auf denen er genauso dreinblickt, und er weiß, wie der Fremde sich fühlt.
Hartenfels schätzt ihn auf gut 50 Jahre. Als er noch näher kommt, fällt ihm auf, dass die Haare, die unter dem Hut des Mannes hervorschauen, grau und recht dünn sind. Hartenfels versteht nicht, warum so viele Menschen die Zeichen der Zeit nicht erkennen. Er selbst hat eine Glatze, höchstens Stoppeln, wenn er keine Zeit zum Rasieren findet. Es ist eine Tugend, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Das zeigt, dass man noch Kontakt zur Realität hat. Wer den Kontakt zur Realität verliert, verliert sich in seinen Vorstellungen.
Hartenfels macht die letzten Schritte, nickt seinen Kollegen zu und stellt sich direkt vor den Mann, doch bevor er ihn ansprechen kann, bellt ein Hund. Hartenfels schaut nach unten auf ein großes Tier, das hinter dem Mann im Schnee gelegen hat und gerade aufspringt.
»Sitz«, hört Hartenfels und der Hund befolgt das Kommando, lässt ihn jedoch nicht aus den Augen.
Hartenfels ist so einem Tier nie zuvor begegnet. Es ist schwarz und struppig, hat dunkle Augen, die hinter Fellfransen verschwinden, ist massig und schwer, Hartenfels schätzt gut und gerne 40 Kilo. Das Kreuz breit und die Beine lang, den Schwanz kann er nicht sehen.
»Ihr Hund?«, fragt er.
Der Mann, der trotz des Kommandos, das er gegeben hat, weiter in die Ferne schaut, fokussiert endlich seinen Blick, betrachtet Hartenfels und nickt.
»Zerberus«, sagt er, was dazu führt, dass der Hund die Ohren aufstellt.
Hartenfels weiß gar nicht, wonach er zuerst fragen soll. Der Name des Hundes erscheint ihm genauso grotesk wie seine Rasse.
»Zerberus?«, fragt er.
»Genau«, sagt der Mann, ohne sich von Hartenfels abzuwenden, »nach dem Wächter des Hades aus der griechischen Mythologie.«
»Also ein Höllenhund«, murmelt Hartenfels.
»Ein Mix aus Riesenschnauzer und Wolfshund. Meine Frau nennt ihn Fluffy.«
»Fluffy?«, wiederholt Hartenfels.
Das ist ja mal ein putziger Name für