Das irritiert Hartenfels, der einen schnellen Griff in ein besonders prominent platziertes Regal erwartet hat, stattdessen Schweigen.
»Hätten Sie vielleicht einen Titel?«, fragt die Frau.
»Leider nein.«
»Bei den lieferbaren Büchern finde ich nichts«, sagt sie.
»Aber dieser Meister wohnt doch gleich hier um die Ecke«, meint Hartenfels.
»Tatsächlich?« Die Überraschung wirkt echt.
»Finden Sie wirklich nichts?«
»Vielleicht gebraucht«, bekommt er zur Antwort.
»Na also«, entfährt es Hartenfels, schließlich ist er doch in einem Antiquariat.
»Wie bitte?«, fragt die Buchhändlerin.
»Sie müssen einfach etwas von ihm haben«, erklärt er und sieht sich ostentativ um.
»Nicht dass ich wüsste.«
Hartenstein kann sich nicht vorstellen, dass irgendjemand weiß, was sich in dieser vollgestopften Höhle alles versteckt, hat allerdings schon gehört, dass Buchhändler ihre Regale in- und auswendig kennen, weshalb er beschließt, der Frau zu glauben. Wahrscheinlich besitzt sie ein eigenes System.
»Schade«, sagt Hartenfels, »ich dachte, ich könnte gleich ein Buch mitnehmen.«
»Ich schau mal bei meinen Kollegen nach«, sagt die Buchhändlerin und klappert auf ihrer Tastatur. »Na, da wäre doch was«, erklärt sie nach ein oder zwei Minuten, »Zustand gut und aus einem Nichtraucherhaushalt, das könnte ich Ihnen besorgen.«
»Wie heißt das Buch denn?«
»Es scheint der Beginn einer mehrteiligen Reihe zu sein. Mir sagt es leider nichts, ist von 2005 und heißt ›Feuer und Drache‹, für 5,80 Euro plus Verpackung und Porto.«
»Ein neueres finden Sie nicht?«
Die Buchhändlerin taucht ein weiteres Mal ab und schüttelt dann den Kopf. »Es gibt noch mehr, alles aus dieser Reihe offensichtlich. Das Neueste, was ich finde, ist von 2007. Aber das ist irgendein mittlerer Band, nicht der erste.«
»Und wie lange würde es dauern, mir eins dieser Bücher zu besorgen?«
»Das kommt auf den Lieferanten an. Manche Antiquariate sind fix«, sie zwinkert und Hartenfels ahnt, dass sie sich selber meint, »manche nicht. In fünf bis sechs Tagen sollte es spätestens hier sein.«
Inzwischen zweifelt Hartenfels daran, dass er eines von Meisters Werken lesen muss. Die Information, die er gerade bekommen hat, ist viel wichtiger als alles, was der Mann schreibt.
»Ich glaube, ich verzichte«, sagt er, verabschiedet sich und verlässt den Laden.
Draußen überlegt Hartenfels, ob er Meister gleich mit der Tatsache konfrontieren sollte, dass er seit über zehn Jahren nichts veröffentlicht hat, oder erst später.
Dinge aufzuschieben liegt Hartenfels nicht. Außerdem kann er einfach zu Fuß gehen.
7. Kapitel
Meister geht es nicht gut. Er steckt mitten im dritten Band seiner Schwertmeister-Reihe, und um ihn herum bricht alles zusammen. Wie soll er sich da konzentrieren? Zerberus lauert in seinem Körbchen und lässt ihn nicht aus den Augen. Das macht mich noch verrückt, denkt Meister. Wahrscheinlich will der Hund raus in den Park, aber da möchte er so schnell nicht wieder hin.
Meister spukt den ganzen Nachmittag ein Bild im Kopf herum, das er nicht los wird, während der Fahrt mit Hartenfels von der Gerichtsmedizin zurück nach Kreuzberg hat er darüber nachgedacht.
Vor seinem inneren Auge sieht er das von Zerberus freigescharrte Bein, bloß mit dem Unterschied, dass dieses Bein nicht einem Mann, sondern einer Frau gehört. Meister stellt sich vor, wie er zu Boden stürzt, um Hilfe zu leisten. Er fühlt seine immer kälter werdenden Hände, die im Schnee wühlen. Schnee, der zu Eis wird und ein Gesicht bedeckt, das er einfach nicht findet. Aber es muss doch irgendwo sein, Meister hält inne, um sich zu orientieren.
Er betastet das Bein, das absurderweise in einem hauchdünnen Nylonstrumpf steckt, und fährt den Oberschenkel ab. Dann verliert er die Geduld, packt die Hüften der eingeschneiten Gestalt und hievt sie nach oben. Wie in einem gewaltigen Spasmus wölbt sich die Frau in seinen Händen hoch, Schnee rutscht zur Seite und gibt einen Unterleib frei, der von einem schwarzen Rock nur notdürftig verhüllt wird. Verdreht wie der Stoff ist, zeigt er mehr, als er verbirgt.
Das ist bestimmt beim Sturz passiert, geht es Meister durch den Sinn, an etwas anderes will er gar nicht denken, wendet lieber den Blick ab, der doch alles aufnimmt, was sich im Bruchteil einer Sekunde offenbart. Nach wie vor ist der Rest des Körpers nicht zu erkennen, sein oberer Teil liegt weiter unter dem Schnee begraben.
Fast achtlos lässt Meister die Hüften los, die er eben mit aller Kraft hochgestemmt hat, und greift nach den Schultern, greift zumindest dahin, wo er sie vermutet. Irgendwie hat sich dort mehr Schnee angesammelt, vielleicht hat der Wind ihn verweht. Aber es ist windstill, nichts rührt sich, und vereinzelt fallende Flocken schweben senkrecht auf ihn und die Leiche hinunter.
Meisters Hände wühlen weiter, wühlen und fassen jetzt von der Seite her unter zwei Schulterblätter, ganz tief muss er sich über den Schnee beugen, um richtig zu greifen, fast sieht es so aus, als sei er bereit für einen Kuss, sollte der Kopf der Frau sich endlich zeigen. Doch das, was Meister emporbringt, ist so schrecklich, dass er es sofort fallen lässt. Da, wo ein Kopf sein sollte, ist nichts. Was er dem Schnee entreißt, ist ein Rumpf.
Meister macht die Augen auf und wischt sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn, dann lächelt er. Die Szene ist gut. Die Szene passt in seine Schwertmeister-Reihe.
Bloß an der Bekleidung muss er arbeiten, denkt Meister, schließlich schreibt er keine erotische Fantasy.
Als es an der Tür klingelt, springt Zerberus wie von der Tarantel gestochen auf und rast zum Eingang, wo er auf den Fliesen schlitternd zum Stehen kommt und anschlägt.
Schon wieder Hartenfels. Meister hält Zerberus mit Mühe davon ab, den Kommissar anzuspringen. Obwohl das eigentlich egal wäre, da gibt es nicht viel zu ruinieren. Hartenfels’ Schuhe haben weiße Ränder, und die Hose ist bis zu den Waden nass. Meister registriert das alles, ohne es wirklich zu sehen. Er ist in Gedanken noch bei der Frau, die kopflos in ihrem Grab aus Schnee liegt.
»Darf ich Sie noch mal stören?«, fragt Hartenfels und nestelt bereits an seinen Schuhen.
Meister nickt und geht zurück ins Wohnzimmer, Zerberus schickt er ins Körbchen.
Hartenfels lässt sich aufs Sofa fallen. Der Kommissar wirkt müde, findet Meister, der langsam in die Gegenwart zurückfindet. Blaue Augen, unter denen sich noch dunklere Ringe gebildet haben, betrachten ihn. Bei Hartenfels Fett von Muskeln zu unterscheiden, fällt Meister nach wie vor schwer. Hartenfels erinnert ihn an ein Monument, kompakt und undurchdringlich. Selbst seine Waden spannen den Stoff der nassen Hose, von Schultern, Brustkorb und Bauch ganz zu schweigen.
»Hat Ihre Freundin eigentlich einen eigenen Wagen?«, fragt Hartenfels und reißt Meister aus seinen Gedanken.
Meister schüttelt den Kopf. »Wir haben kein Auto. Macht doch hier in der Stadt überhaupt keinen Sinn.«
»Aber sie hat einen Führerschein?«
»Das schon.«
»Wir brauchen eine Liste der Personen, bei denen sie sich aufhalten könnte.«
»Ich habe Ihnen doch vorhin gesagt, dass sie keine Verwandten hat«, sagt Meister, »und die anderen Kontakte sind wahrscheinlich so gut wie alle geschäftlich.«
»Was meinen Sie mit geschäftlich?«
»Ich weiß das nicht genau. Um diesen Aspekt meiner Arbeit kümmere ich mich nicht.«
»Sie kümmern sich nur ums Schreiben?«