Jana stellte sogleich eine Verbindung zu dem im Hausflur wahrgenommenen Geruch her. Wenn sie sich doch nur erinnerte, wo sie diesen schon einmal wahrgenommen hatte.
»Was hat er denn alles mitgenommen?«, fragte Clemens, während sie in der Tür zum Arbeitszimmer standen, in das Jana vor wenigen Stunden so gern einen Blick hineingeworfen hätte.
»Einige Notizen und seinen Laptop«, sagte Katrin Anders. Sie war ganz blass geworden.
»Wissen Sie, ob Ihr Freund seine Daten gesichert hat, vielleicht in einer Cloud oder auf einem Stick, den er irgendwo versteckt hat?«
Katrin Anders gab sich ahnungslos.
Clemens blieb nichts weiter übrig, als die Spurensicherung zu verständigen. Vielleicht fanden sie ja DNA des Mannes, der sich hier unter Vorspiegelung einer falschen Identität Zugang verschafft und Beweismittel gestohlen hatte. Da er einen Schutzanzug und – wie ihnen Katrin Anders berichtete – zusätzlich noch Handschuhe und Schuhüberzieher getragen hatte, sah Jana die Chance als äußerst gering an. Aber vielleicht hatte er alles irgendwo in der Nähe entsorgt.
»Clemens, ob er die Schutzkleidung weggeworfen hat?«, fragte Jana.
»Ich gehe mal nachschauen«, antwortete Clemens. »Wo haben Sie Ihre Mülltonnen?«, fragte er an Katrin Anders gerichtet.
»Vor dem Haus in einer Box. Aber für die benötigt man einen Schlüssel.«
»Trotzdem, ich schaue mich in der Nähe um. Du bleibst bei Frau Anders?«
Jana bejahte.
»Mir ist nicht gut«, sagte Katrin Anders, als die beiden Frauen miteinander allein waren.
»Sie sollten einen Arzt aufsuchen«, riet Jana.
»Heute ist doch Samstag«, antwortete Katrin Anders.
»Dann setzen Sie sich wenigstens und trinken etwas. Ich kann auch gerne den Notarzt anrufen. Oder jemanden, der Sie psychologisch betreut.«
»So schlimm ist es nicht«, entgegnete Katrin Anders. Mittlerweile hatten sie im Wohnzimmer Platz genommen.
»Hatte Ihr Freund einen Social-Media-Account?«, fragte Jana.
»Ja, bei Facebook und Twitter, aber er nutzt diese, soweit ich weiß, nur sporadisch.«
»Seine Passwörter kennen Sie nicht zufällig, oder?«
Katrin Anders schüttelte den Kopf.
Clemens kam, ohne etwas gefunden zu haben, zurück. Dafür hatte er Janas Fotoausrüstung aus dem Auto mit nach oben gebracht. Jana nahm ihn beiseite und schilderte ihm die gesundheitliche Verfassung von Katrin Anders.
»Machen Sie sich keine Sorgen um mich«, sagte sie leise. »Aber ich würde mich gerne etwas hinlegen.«
Jana und Clemens ließen sie im Wohnzimmer allein.
Um keine Spuren zu zerstören, blieben sie im Flur stehen, während sie auf die Kollegen warteten. Die Vorgänge waren wirklich besorgniserregend. Jemand hatte offensichtlich Beweismaterial an sich gebracht, Unterlagen, die der Polizei unter keinen Umständen in die Hände fallen sollten. Es handelte sich wohl kaum um einen Zufall, dass diese Person ausgerechnet im Zeitfenster zwischen Clemens’ Anruf und ihrem Eintreffen hier hereinspaziert war. Hatte dieser Mann möglicherweise sogar von ihrem Vorhaben gewusst und den Moment abgepasst, bevor sie hier ankamen? Dann war diese Person im engen polizeilichen Umfeld zu suchen oder hatte Kontakte zu einem von ihnen. Clemens trieben mit Sicherheit ähnliche Gedanken um, denn als die Kollegen der Spurensicherung eintrafen, reagierte er ihnen gegenüber distanzierter als üblich. Misstraute er einem?
»Darf ich dein Notizbuch nutzen?«, fragte sie.
»Wozu?«, fragte Clemens, der gerade seine Einweisung an die Kollegen beendet hatte.
»Ich will mir notieren, was mir bei unserem ersten Besuch aufgefallen ist, als ich einen Blick ins Arbeitszimmer geworfen habe.«
»Das ist gut«, sagte Clemens und reichte Jana sein Notizbuch zusammen mit einem Stift. Nachdem Jana einige Punkte notiert hatte und die Seite mit ihrem Handy abfotografiert hatte, gab sie Clemens das Notizbuch zurück und versuchte, sich von den Vorbehalten gegenüber den Kollegen freizumachen, während sie Seite an Seite mit ihnen arbeitete. Zunächst fotografierte sie jeden Winkel des Arbeitszimmers, danach sah sie sich noch weiter in der Wohnung um, lichtete einige Erinnerungsfotos ab, die an den Wänden hingen, und die Zettel, die an der Pinnwand in der Küche befestigt waren. Plötzlich tauchte neben ihr Katrin Anders auf.
»Geht es Ihnen ein wenig besser?«
»Nein, nicht wirklich. Es wird mir gerade alles ein wenig zu viel.«
Jana tat die junge Frau leid. Ein Blick in ihr Gesicht bestätigte Jana in ihrem Vorhaben, für sie einen Arzt zu rufen. Für solche Fälle hatte die Polizei Hilfsangebote. Jana zögerte nicht lange und ging die Kontaktliste in ihrem Handy durch, bis sie eine geeignete Ärztin in der Nähe fand. Es war nun nicht mehr daran zu denken, weitere Fragen zu stellen. Katrin Anders brauchte Ruhe und professionelle Hilfe.
Die Ärztin traf ein, als sie mit ihrer Arbeit gerade fertig waren. Guten Gewissens konnten Jana und Clemens Katrin Anders nun allein lassen.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Jana mit einem sorgenvollen Blick gen Himmel. Ihr Hund Usti neigte seit wenigen Wochen zu einer gewissen Unruhe, wenn sich ein Gewitter aufbaute.
»Ich schlage vor, ich setze dich in Ahrweiler ab. Sollte ich dich brauchen, melde ich mich bei dir.«
Jana war einverstanden. Überstunden hatte sie genug, und Usti während des Gewitters beistehen zu können, kam ihr sehr gelegen. In der Straße vor ihrer Wohnung angekommen, entnahm Jana die Speicherkarte aus ihrer Kamera und übergab sie Clemens.
»Ich wünsche erfolgreiche Ermittlungen«, sagte Jana beim Aussteigen.
»Wir werden sehen …«, sagte Clemens und lächelte.
Kaum war er weitergefahren, fielen dicke Tropfen vom Himmel. Auf der Haut fühlten sie sich unerwartet kalt an. Jana huschte ins Gebäude. Hinter ihrer Wohnungstür wartete Usti auf sie. Er zitterte ein wenig, machte ansonsten allerdings einen recht unaufgeregten Eindruck. Nachdem sie ihn einige Minuten gestreichelt hatte, hörte auch das Zittern auf. Als Nächstes sprang Jana unter die Dusche, zog sich bequemere Kleidung an und setzte sich dann mit einem Glas Minztee auf ihre Dachterrasse. Das Gewitter war mittlerweile gen Rheintal weitergezogen. Ihre Terrassenmöbel hatten kaum Regen abbekommen. Abgekühlt hatte es sich so gut wie gar nicht. Sie dachte eine Weile über den Fall Daniel Bender nach, holte ihr Handy, um die Notizen durchzusehen, und schrieb schließlich alles noch einmal auf ein großes Blatt Papier. Das Schreiben mit der Hand half ihr, die Gedanken zu sortieren. Hatte sie früher über Clemens gelächelt, dem sein Notizbuch nahezu heilig war, so verstand sie ihn jetzt immer besser. Dieser Fall bereitete ihr größere Sorgen als die früheren Ermittlungen. Rizin, das klang nach Dissidenten, Spionage und Geheimdienste. Unvorstellbar, dass sie es hiermit zu tun hatten. Und doch, da war zum einen dieser Mann, der sich als Mitarbeiter der Polizei ausgegeben hatte und genau jene Beweismittel weggeschafft hatte, die ihnen weiterhelfen würden, um überhaupt erst einmal ein Motiv für den mutmaßlichen Mord an Daniel Bender zu finden. Sie rief Clemens an und fragte, ob sich vielleicht doch noch herausgestellt hatte, dass jemand aus ihrem Team eigenmächtig zu Daniel Benders und Katrin Anders’ Wohnung gefahren war. Das wäre für alle Beteiligten eine Erleichterung. Doch diese vage Hoffnung bestätigte sich nicht. Wer war nun im Besitz der Unterlagen und des Laptops? Benders Mörder? Ein Konkurrent, der ebenfalls an einer Story Interesse hatte? Die Vorstellung, dass es bei der Polizei jemanden gab, der den Unbekannten über Interna informiert hatte, ließ sie nicht los. Und dann eben das verabreichte Rizin. Die Tat und die Verabreichung mussten länger geplant worden sein, keine Affekthandlung. Aber was hatte Daniel Bender in Erfahrung gebracht, dass er derart hinterhältig getötet wurde? Jana fragte sich, ob sie nicht gerade dabei waren, in etwas hineinzugeraten, das eine Nummer zu groß für sie war. Clemens würde schon wissen, ob die Einschaltung des Landeskriminalamtes erforderlich