»Du könntest dir also auch vorstellen, dass er dort gestorben ist, und die Angestellten des Bades ihn einfach nach draußen befördert haben?«
»Um Ärger zu vermeiden wegen negativer Schlagzeilen, klar, warum nicht.« Clemens schüttelte den Kopf über diese Vorstellung.
»Das würde zu dem Verhalten von diesem Mann passen. Wie hieß er gleich?«, fragte Jana.
»Henning Gier«, sagte Clemens.
»Das spräche nicht für ein gutes Arbeitsklima«, bemerkte Jana. »Aber warum haben sie dann seine Wertsachen nicht ebenfalls verschwinden lassen?«
»Möglicherweise hatten sie das noch vor. Es konnte ja niemand ahnen, dass du gestern noch mit ihm sprachst und ihn heute wiedererkennen würdest.«
»Und dass ich bei der Kripo arbeite …«
»Zeig mir die Liege, auf die er sich niedergelassen hat, als du gingst«, bat Clemens.
Schon aus der Ferne erkannte Jana, dass jemand die Liege verrückt hatte. Denn sie hatte sie gestern so positioniert, dass sie der untergehenden Sonne hatte entgegenblicken können. Nun stand sie mit Blickrichtung zum Wasserbecken. Wenn man von dem Ort, an dem sie und Clemens jetzt standen, auf den Rasen schaute, konnte man anhand der sich noch nicht wieder vollständig aufgerichteten Grashalme eine Spur ausmachen, die zu dem Tor nach draußen führte. Diese Spur begann exakt an der Stelle, an der Jana gestern Abend ihre Liege hingestellt hatte.
Jana folgte der Spur, die aussah, als wären hier mehrere Personen nebeneinander gegangen, und erreichte ein Blumenbeet am Zaun. Sie musste nicht lange suchen, bis sie das Bändchen mit dem Schlüssel fand, und zeigte es Clemens. Es musste von Daniel Benders Handgelenk gerutscht sein. Sie fotografierte die Fundstelle und winkte ihre Kollegen von der Spurensicherung herbei.
»Nun müssten wir nur noch wissen, wann Daniel Bender starb«, sagte Clemens hinter ihrem Rücken. Er hatte gerade ein Telefonat beendet.
»Und woran«, ergänzte Jana. »Ich denke, dass vermutlich zwei Leute Daniel Bender von der Liege aus bis zum Tor geschleppt oder getragen haben.«
»Das wäre gut möglich. Jana, ich habe gerade aufgrund der Personenabfrage erfahren, dass Daniel Benders Eltern hier in Bad Neuenahr-Ahrweiler leben und er mit einer Frau namens Katrin Anders gleich hinter den Ahr-Thermen wohnte. Würdest du mich zu ihr begleiten? Melanie Siemer übernimmt das Gespräch mit den Eltern.«
Jana stimmte zu. Sie hatte nicht bedacht, dass sie wieder einmal auf die Kommissarin treffen würde, die ihr nach einigen durchaus erfolgreichen gemeinsamen Ermittlungen, wie dem Fall, den sie intern als »Johannisnacht« betitelten, dennoch Rätsel aufgab. Melanie Siemer wirkte kühl und abweisend, vor allem Clemens gegenüber, und hielt auch Jana auf Abstand, sodass es kaum dazu kam, einige persönliche Worte zu wechseln. Dabei war ihr Melanie Siemer gar nicht einmal unsympathisch. Vielleicht trennte sie Berufliches und Privates, wollte keine Vermischung? Vielleicht hatte sie aus bestimmten Gründen eine Mauer errichtet. Jana musste sofort an den Überfall in der Kölner Halle denken. Sie hatte nach einem Einsatz nur ihr Kamerastativ holen wollen und war von zwei Gewalttätern schwer verletzt worden, die die Dreistigkeit besessen hatten, unmittelbar nach dem Ende der Spurensicherung und trotz Betretungsverbot den Ort, diese heruntergekommene Industriehalle, aufzusuchen. Die Erinnerung daran begleitete sie tagtäglich. Dieses Gefühl der Sicherheit, das sie ihr Leben lang verspürt hatte, war weg. Jeder Mensch reagierte auf eine emotionale Extremsituation anders. Manche bauten Mauern um sich herum auf, andere zogen sich in sich zurück, andere redeten offen über ihre Erlebnisse. Doch alle verband etwas: Das Leben nach einem solchen Vorfall war ein anderes. Mit zum Teil dramatischen Auswirkungen. Jana hatte zunächst von sich gewiesen, an einer posttraumatischen Belastungsstörung zu leiden, und hatte sich, als sei nichts geschehen, auf eine Urlaubsreise ins Ahrtal begeben, wo sie aufgrund eines Todesfalls auf dem Rotweinwanderweg Clemens Wieland kennengelernt hatte, der die damaligen Ermittlungen leitete. Seitdem hatte sie viele gute Tage erlebt, aber auch manche düstere. Bis zu jenen Sommertagen, als der Prozess gegen ihre Angreifer endlich begann, hatte sie zumindest gehofft, dass es wenigstens eine Art der Gerechtigkeit gab. Aber seitdem das Verfahren gegen die russischen Täter aus Mangel an Beweisen eingestellt worden war und somit ihre Peiniger straffrei davongekommen waren, beherrschte sie das Gefühl, kaum einem Menschen mehr vertrauen zu können. Noch nicht einmal ihren früheren Arbeitskollegen bei der Kölner Kriminalpolizei.
Clemens’ Frage an den Betriebsleiter des Bades, auf den sie im Eingangsbereich stießen, riss sie aus ihren Gedanken.
»Wer hatte gestern Abend hier in den Thermen Dienst? Ich benötige alle Namen und Adressen und am besten wäre es, wenn sie diese Personen sofort hierher bestellen könnten.«
»Gibt es jemanden, der frühmorgens im Bad arbeitet, ein Gärtner zum Beispiel?«, fragte Jana, da sich Clemens nicht danach erkundigt hatte.
»Ja, schon. Wir haben mehrere Gärtner. Aber die arbeiten nur unter der Woche.«
»Auch keine Hilfskraft, die die Mülleimer leert oder mit ähnlichen Aufgaben betraut ist?«, wollte Clemens wissen.
»Ich mache Ihnen eine Liste«, sagte Steven Pesch und eilte in sein Büro. Nur Minuten später kam er mit einem Computerausdruck zurück. Jana hatte in der Zwischenzeit ihre Fotoausrüstung zusammengepackt und übergab die Speicherkarte der Kamera ihren Kollegen, damit sie diese zur Polizeidienststelle nach Ahrweiler mitnahmen. So konnten die Fotos bereits zur Auswertung vorbereitet werden.
Es würde noch etwa eine Stunde dauern, bis alle infrage kommenden Mitarbeiter in den Thermen einträfen, verriet Steven Pesch. Jana und Clemens kam das gelegen, denn so hatten sie ausreichend Zeit, sich mit der Partnerin von Daniel Bender zu unterhalten.
Da die Wohnung fußläufig zu erreichen war, ließ Clemens sein Auto stehen. An der Fundstelle des Leichnams begegnete ihnen der Assistent des Rechtsmediziners. Er ließ ihnen ausrichten, dass der Verstorbene auf dem Weg nach Bonn sei, wo sofort mit der Obduktion begonnen werden würde.
»Es ist von einer Fremdbeteiligung auszugehen, was das Verbringen des Toten zu der Bank angeht«, referierte er. »Wir haben postmortale Veränderungen an seinem Hautgewebe entdeckt. Mit großer Wahrscheinlichkeit lebte der Mann also zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Über die Todesursache selbst können wir noch keine Auskunft geben.«
Das war zunächst nicht viel. Immerhin fanden Clemens und Jana ihre Theorie hinsichtlich des Transports des Toten weg vom Gelände der Thermen bestätigt.
Es dauerte eine Weile, bis ihnen die Wohnungstür in der Mittelstraße geöffnet wurde. Katrin Anders war eine zierliche Frau, mit mittelblonden Haaren, die Jana auf Ende zwanzig schätzte.
»Ich habe mir gedacht, dass etwas nicht stimmt«, sagte sie, nachdem sich die beiden vorgestellt hatten. Katrin Anders bat sie in die Küche, die aus einem schwedischen Möbelhaus zu stammen schien. An die Anrichte gelehnt nahm sie die Todesnachricht entgegen. Mit versteinerter Miene griff sie zu einem Glas, das neben dem Spülbecken stand, und ließ Wasser aus dem Hahn hineinlaufen. Ohne daraus getrunken zu haben, entglitt es ihr und prallte auf den steinernen Küchenfußboden, wo es zersprang. Janas Hose bekam einige Wasserspritzer ab.
»Ich muss mich setzen«, murmelte Katrin Anders und verließ, ohne ein weiteres Wort zu sagen, die Küche. Jana blieb zurück, während Clemens der jungen Frau folgte. In einem Wandschrank fand sie ein Kehrblech, mit dem sie die Scherben zusammenfegte, nachdem sie das Wasser aufgesaugt hatte. Auf dem Weg zum Wohnzimmer, in dem sie Clemens reden hörte, kam Jana an einer offen stehenden Tür vorbei. Obwohl sie ihre Neugier nur schwer im Zaum halten konnte, unterließ sie es, die auf den beiden gegeneinandergestellten Schreibtischen liegenden Papiere zu lesen. Zu gerne hätte sie erfahren, woran der Journalist gerade gearbeitet hatte. Als Jana das Wohnzimmer betrat, fragte Clemens gerade, ob Katrin Anders sich nicht gesorgt habe, als ihr Freund in der vergangenen Nacht nicht nach Hause gekommen war.
»Ich bin früh ins Bett gegangen«, antwortete sie.
»Wo dachten Sie