Endstation Nordstadt. Nicole Braun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicole Braun
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839268865
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uns?«

      Ich wusste nicht, was ich beängstigender fand: Die Vorstellung, dass Sergej als Schatten hinter mir herlief, oder 500 Mark mit mir herumzutragen und sie nicht sofort in den Rachen eines Spielautomaten schieben zu dürfen.

      8 Azrael

      Natürlich hatte ich damit gerechnet, dass früher oder später eine weitere Figur das Spielfeld betreten würde, bloß dass es ausgerechnet dieser Anwalt war, verblüffte mich.

      Er hatte es bestimmt nicht darauf angelegt, von den Journalisten abgelichtet zu werden. Und sicher war Scharpinsky darüber genauso wenig erfreut. Der Bewegungsradius des Anwalts war recht überschaubar, sodass ich ihm ohne Probleme auf den Fersen bleiben konnte. Dass ihn sein erster Gang an diesem Tag direkt zu Scharpinsky geführt hatte, ließ tief blicken. Ich war mir sicher, dass er nicht deshalb in Sharps Auftrag unterwegs war, weil der ihn für einen gewieften Anwalt hielt, sondern weil Sharp ihn in der Hand hatte.

      Was der Anwalt ganz bestimmt in der Hand hielt, war die Liste, die die einzige Verbindung zwischen den Todesfällen herstellte. Damit war er leider ein Problem geworden.

      Zeit, ihm dichter auf die Pelle zu rücken.

      9

      Ich ging die Straße entlang zu meinem Auto. Um diese Tageszeit zeigte die Nordstadt ungeschminkt ihr hässliches Antlitz. Keine Leuchtreklamen lenkten von dem Erbrochenem ab, das der Regen zu großen Lachen ausgewaschen hatte. Bis weit nach Mittag schien das Viertel seinen Rausch auszuschlafen und Kraft für die kommende Nacht zu sammeln.

      Als ich in den Wagen stieg, fragte ich mich, ob es nicht leichter wäre, mir endlich einzugestehen, dass ich in der Nordstadt meine Heimat gefunden hatte. Der Gedanke stieß saurer auf als Mollys Kaffee.

      Ich ließ den Motor an und fuhr den kurzen Weg in die Innenstadt bis zu meiner Kanzlei. Seit man für diesen hochglanzpolierten Einkaufspalast oberhalb vom Königsplatz den großen Parkplatz geopfert hatte, musste ich länger herumkurven als vorher. Endlich fand ich eine Lücke und parkte den Ford mit der Schnauze im eingeschränkten Halteverbot. Die Politessen kannten meine senfgelbe Kiste und übten Nachsicht, im Gegenzug bekamen sie den einen oder anderen rechtlichen Rat von mir kostenlos.

      Ich nahm den kleinen Umweg über den Königsplatz. Hier sah es aus, als hätte man versucht, den Zustand Kassels nach dem Krieg zu rekonstruieren. Die Bauarbeiten für die Neugestaltung des Platzes liefen trotz des schlechten Wetters weiter. Man hatte wohl den Ehrgeiz, zur Documenta im Juni fertig zu sein. Ich kannte die Pläne und war mir sicher, dass ich mich in hundert Jahren nicht an diesen leeren, seelenlosen Ort gewöhnen würde, der der Königsplatz bald sein sollte. Es war gerade mal zwei Jahre her, dass die Kinder im Sommer mit nackten Füßen durch die Wasserbassins getrampelt waren. Conny hatte am Rand gesessen und das Eis gegessen, das die Kinder erst quengelnd eingefordert und dann nicht mehr gemocht hatten. Vielleicht tat die Stadt mir sogar einen Gefallen damit, diese Erinnerungen mit dem Bagger in Schutt und Asche zu legen.

      An einem Kiosk, der behelfsmäßig in einem Container untergebracht worden war, deckte ich mich mit den Tageszeitungen ein, die in Schuhmanns ehemaligem Wirkungskreis lagen. Mal sehen, ob die Presse konkretere Informationen hatte als ich.

      In der Unteren Königsstraße kaufte ich ein Hörnchen und eine Tüte Milch und bog mit vollen Armen in die Hedwig­straße ein. Ich ärgerte mich, dass ich keine Tüte mitgenommen hatte. Nun musste ich meine Aktentasche vor dem Hauseingang abstellen, der gerne als Toilette missbraucht wurde.

      Keine 50 Meter von der Einkaufsmeile entfernt flanierten kaum noch Passanten. Die Seitenzweige der Unteren Königsstraße waren ohnehin nicht besonders beliebt. Kaum der geeignete Platz für eine Kanzlei könnte man meinen, doch ich hatte absichtlich einen Ort gewählt, der vom geschäftigen Trubel ein wenig abseits, aber trotzdem zentral lag.

      Die Kanzlei in der Wilhelmsstraße hatte ich aufgegeben, um dem Ärger mit den ansässigen Geschäftsleuten aus dem Erdgeschoss ein Ende zu setzen. Irgendwann hatte ich zunehmend Besuch von Menschen bekommen, die an der Mauer am Friedrichsplatz ihrem Tagwerk nachgingen – betteln und drücken. Zunächst hatten die Ladeninhaber im Erdgeschoss noch die Nase gerümpft. Es war ihnen lästig gewesen, dass sich meine Mandanten vor dem Eingang mit zittrigen Fingern eine Zigarette ansteckten oder mit Begleitern in hitzige Diskussionen gerieten. Nachdem einige mit dem Hinweis verscheucht worden waren, dass Herumlungern an diesem Ort nicht erwünscht sei, hatte ich mich für eine geeignetere Gegend entschieden – passender für mich und meine Mandanten.

      In der Regel vertrat ich Kleinkriminelle, seltener Menschen, die schwere Delikte wie Mord oder Totschlag begangen hatten. In den letzten Jahren immer häufiger als Pflichtverteidiger. Wenn mich ein Klient von sich aus aufsuchte, dann deshalb, weil ihn Kollegen abgewiesen hatten. Die Situation war schon selten absurd: Ich sollte als Rettungsanker herhalten, dabei war ich selbst am Absaufen.

      Ohne anzuhalten, passierte ich die Reihe Briefkästen im Flur. Für Mahnungen hatte ich im Augenblick keinen Nerv, darum würde ich mich später kümmern.

      Ich erklomm die drei Etagen, indem ich jeweils eine Treppenstufe übersprang, schloss die Tür zu meiner Kanzlei auf und warf die Aktentasche im winzigen Eingangsbereich in die Ecke. Zwei Türen hatte man der Eingangsnische abgetrotzt, die linke führte zum Klo, ich ging rechts in mein Büro.

      Es war nicht gerade einfach, ein freies Fleckchen für das mitgebrachte Frühstück zu finden. Schließlich schob ich mit dem Ellenbogen eine Stelle auf dem Schreibtisch frei und legte die Zeitungen ab.

      Hinter zwei Schranktüren versteckte sich eine kleine Pantryküche, dort türmte sich dreckiges Geschirr. Ich spülte die Kaffeekanne aus und setzte mit den letzten Krümeln aus der Dose neuen Kaffee auf.

      Zwischen den Aktenbergen stand die Tasse von gestern, von einem eingetrockneten Rest abgesehen noch einwandfrei. Ich stapelte die Ordner auf dem Schreibtisch aufeinander und breitete die HNA aus. Oberhalb des Artikels prangte übergroß das unsägliche Foto, darunter ein knapper Text. Franz Schuhmann war auf tragische und ungeklärte Weise aus dem Leben geschieden. Hinweise auf ein Verbrechen gab es laut derzeitigem Ermittlungsstand der Polizei keine, allerdings hatte man auch noch keinen Abschiedsbrief entdeckt. Dann folgte eine erstaunlich ausgiebige Würdigung des Verstorbenen, der als überaus erfolgreicher Geschäftsmann, ehrenamtlicher Wohltäter und angesehener Bürger der Stadt gelobt wurde. Ein Kommentar im Göttinger Boten zeichnete ein vollkommen gegensätzliches Bild: Der Text glich eher einer Aneinanderreihung der Untaten des Verstorbenen und hinterließ bei mir den Eindruck, dass es an ein Wunder grenzte, dass Schuhmann sich nicht eine grausamere Art zu sterben ausgesucht hatte, nur um angemessen Buße zu tun.

      Die Wahrheit lag mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwo in der Mitte. Seltsam fand ich jedoch, dass niemand eine Verbindung zu den jüngsten Selbstmorden gezogen hatte. Vielleicht, weil dieser Tote sich am Ort seines vermeintlichen Erfolgs erhängt hatte, während die anderen intimere Arrangements für ihre Abgänge gewählt hatten.

      Mit einer Tasse Kaffee in der Hand ging ich zum Schreibtisch. Bevor ich mich setzte, griff ich zum Mantel, den ich über den Schreibtischstuhl geworfen hatte. Ich fummelte die Liste aus der Tasche, die Sharp mir übergeben hatte, dabei fielen vier Hunderter auf den Boden. Ich sah sie an. Ich hätte sie aufheben und in die Manteltasche stopfen oder irgendwo zwischen den Aktenbergen verstecken können, wo ich sie sicher nicht so schnell wiederfinden würde. Doch ich ließ sie einfach liegen und pfefferte den Mantel in die Ecke.

      Danach breitete ich Sharps Liste aus und überflog die Namen, während ich das Hörnchen gedankenverloren in den Kaffee stippte und an dem aufgeweichten Teig nuckelte.

      Ausgerechnet mir hatte Sharp Betriebsgeheimnisse anvertraut, und das sollte etwas heißen. Es schien ein für ihn recht ungewöhnliches Problem zu sein, dass er zu so einer Maßnahme griff, denn üblicherweise wurden Ärgernisse dieser Art innerhalb der Familie geregelt. Ich ging die Namen durch. Soweit ich es auf den ersten Blick beurteilen konnte, allesamt keine Berühmtheiten, aber immerhin überwiegend Kasseler Größen in ihrem jeweiligen Metier. Drei, nein seit gestern waren es ja vier, also vier von den sechs Personen waren nicht mehr am Leben. Michael Zanetti, irgendein hohes Tier bei