Endstation Nordstadt. Nicole Braun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicole Braun
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839268865
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war bis zum Tor hinter mir hergerannt.

      Ich hatte zurückgeschaut und Riva Levin entdeckt, die oben im Fenster stand. Gegen das verspiegelte Glas war sie nur schemenhaft zu erkennen gewesen, dennoch wusste ich genau, mit welchem Blick sie mich bedacht hatte. Tausendmal hatte ich ihn bei meiner Exfrau gesehen, bis er eines Tages unerträglich geworden war.

      Ich war mit dem Vorsatz in den alten Ford gesprungen, den direkten Weg zu Sharp zu nehmen. Ich würde ihm erklären, dass ich der Falsche sei, um sein Problem zu lösen. Schließlich war ich Anwalt und kein Privatermittler. Und ich war vielleicht nicht unbedingt ein erfolgreicher Rechtsverdreher, als Philip-Marlowe-Verschnitt hingegen hatte ich bereits beim ersten Auftritt auf ganzer Linie versagt.

      7

      Innerhalb von 24 Stunden zweimal im Keller von Sharps Etablissement zu stehen, machte meine Situation nicht angenehmer.

      Sharp ließ mich warten. Sergej stand mit verschränkten Armen vor der Bürotür und starrte mir stumm ins Gesicht.

      Ich nahm Platz an der Bar, hinter der Sharps älteste Bardame Molly Gläser polierte. Wenn man den Gerüchten glauben durfte, lief der Laden wie geschnitten Brot. Vielleicht weil Sharps Mädchen nicht aussahen wie Junkies und er seine Jungs angewiesen hatte, die Straße und den Eingang von Dealern freizuhalten. Das Fleur war sauber, auf den Toiletten konnte man sich sogar auf die Brille setzen, und im Gegensatz zu anderen Bordellen lagen nirgendwo gebrauchte Kondome oder halbtote, abgemagerte Mädchen herum. Seit der Grenzöffnung war selbst im beschaulichen Kassel in der Prostitution eine neue Zeitrechnung angebrochen. Der Markt war mit Mädchen aus dem Osten überschwemmt worden, die größtenteils mit falschen Versprechungen eingesammelt und dann gewaltsam zur Prostitution gezwungen worden waren. Sharp hatte zwar seine Finger ebenfalls in diesem Geschäft drin, aber seinen eigenen Laden hielt er sauber.

      Bei allem, was man über Sharp in der Szene wusste, konnte man ihm ein Mindestmaß an Ganovenehre nicht absprechen. Molly hatte sich bei ihm das Gnadenbrot verdient und musste seit ihrer Totaloperation nicht mehr anschaffen. Sie war die Seele des Fleur – schon deswegen hätte Sharp sie nie ausgemustert. Jeden Abend saßen dieselben Kerle am Tresen und heulten sich bei ihr aus. Sie stülpte den Jungs tröstend ihren Vorbau über das Gesicht, winkte derweil eines der Mädchen herbei, stellte flugs eine überteuerte Flasche billigen Schaumwein auf die Theke und zog sich diskret zurück. Molly machte auf diese Weise mehr Umsatz für Sharp als zu der Zeit, als sie selbst angeschafft hatte. Sie war in den letzten Jahren etwas aus der Form geraten. Das knatterenge schwarze Oberteil mit Paillettenbesatz hielt tapfer die wogenden Massen in Schach. Das dunkle Kaschemmenlicht täuschte genauso über die Krater in ihrem Gesicht hinweg wie eine dicke Schicht Make-up und schreiend blauer Lidschatten. Mit den künstlichen Krallen an ihren Fingern konnte sie vermutlich die Kronkorken der Bierflaschen ohne Hilfsmittel abheben.

      »Na, Petrus, du Scheinheiliger, was darf ich dir anbieten?«

      »Molly, ich finde es scheußlich, wenn du mich Petrus nennst.« Ich hasste dieses Wortspiel, und es ärgerte mich, dass ich es hasste. Für meinen Geschmack hatte man mir an diesem Tag bereits tief genug in die Seele geschaut.

      »Entschuldige, Schatz, wie kann ich das wiedergutmachen?«

      »Gib mir nen Kaffee, einen starken.«

      Sie schenkte mir aus einer Thermoskanne ein. Ich sah skeptisch in die braune Flüssigkeit. Sharp ließ Schlafmittel in den entkoffeinierten Kaffee mischen. Auf diese Weise kriegten seine Mädchen die Kundschaft schneller auf die Zimmer, und die Männer blieben bis tief in die Nacht, ohne die Mädchen unnötig lange beschäftigt zu halten, und am Ende präsentierte Molly den Freiern eine Getränkerechnung, die sich gewaschen hatte.

      Aufmunternd nickte sie mir zu. »Ist meine Privatmischung. Kannste trinken. Guck!« Sie goss sich selber eine Tasse ein und nahm einen Schluck.

      Ich schlürfte an dem Kaffee. Ganz ordentlich für Puffbrühe.

      Endlich war es so weit. Sergej machte wortlos einen Schritt zur Seite und öffnete die Tür zu Sharps Büro.

      Der saß an seinem Schreibtisch. Noch war das Auge aus Glas drin, während das andere böse funkelte. Mir kam der Verdacht, dass es womöglich angeraten sei, die Flucht zu ergreifen, aber Sergej hatte sich bereits in meinem Rücken postiert und blockierte den Ausgang.

      Sharp knallte eine Zeitung auf den Tisch. »Ich hoffe, Sie bringen mir bessere Neuigkeiten.«

      Ich versuchte, die auf dem Kopf stehenden Schlagzeilen zu entziffern.

      Sharp drehte die Zeitung um. »Schon wieder einer. Und das bitte schön verstehen Sie unter diskretem Vorgehen?« Er tippte auf das Foto über dem Artikel.

      Im Vordergrund wurde der Sarg in den Leichenwagen verladen, im Hintergrund schaute Kommissar Sachs ziemlich genervt in die Kamera, und in seinem Rücken war ich gerade dabei, mich in die Halle zu stehlen. Mist, da waren die Journalisten doch schneller gewesen.

      »Ich war auf dem Weg zu Schuhmanns Büro, als ich das Polizeiaufgebot an der Halle bemerkt habe. Purer Zufall, dass ich vor Ort war.«

      »Purer Zufall? Werfen Sie mal einen Blick auf Ihre Liste. Kann es noch deutlicher werden, dass da jemand einen Plan verfolgt, der mich treffen soll?«

      Er hatte vollkommen recht, das alles roch so eindeutig nach Komplott, dass es die beste Idee gewesen wäre, sich rauszuhalten und der Polizei die Arbeit zu überlassen.

      Sharp sah nicht aus, als sei er für derartige Vorschläge empfänglich. »Und schon wieder 200.000 weg. Ohne Zinsen. Ich will wissen, was da los ist, haben wir uns verstanden?« Er kniff das linke Auge zusammen. Das Glasauge fluppte heraus, er fing es geschickt auf und rotierte es durch die Finger.

      Der Plan, ihm die Mitarbeit aufzukündigen, ging schneller zum Teufel, als ich erwartet hätte. Wann hatte ich mich in dieses armselige Häufchen verwandelt? Mollys Kaffee rumorte in meinem Bauch. Ich brauchte dringend etwas im Magen. Ein tiefer Blick in Sharps leere Augenhöhle genügte und dieser Gedanke verflog. Statt seine Frage zu beantworten, glotzte ich ihn ratlos an.

      »Gibt es was Neues?«, fragte er.

      »Ich bin doch erst seit gestern dran. Ein bisschen Zeit brauche ich auch. Levin jedenfalls könnte tatsächlich einen Grund gehabt haben, Selbstmord zu begehen. Seine Frau hat mir glaubhaft versichert, dass sie keine Ahnung hat, wofür er sich hätte Geld leihen sollen. Nötig hatte er es auf jeden Fall nicht.«

      Das rotierende Glasauge stoppte. »Nötig hatten die auf Ihrer Liste es alle nicht. Da stehen kaum solche Versager wie Sie drauf. Da stehen Leute drauf, die Geld brauchten, das keine Duftmarke hat.«

      »Wissen Sie, wofür das Geld verwendet werden sollte?«

      »Hätte ich Sie sonst darauf angesetzt? Auf keinen Fall handelt es sich um etwas, womit ich üblicherweise aushelfen kann.« Er meinte lukrative Geldanlagen in Lieferungen aus Mittelamerika, dem Ostblock oder Asien: Koks oder Frauen.

      »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen wirklich helfen kann.« Mir war klar, dass er diesen lauwarmen Versuch, mich zu drücken, abschmettern würde.

      »Und ich bin mir nicht sicher, ob ich mich klar ausgedrückt habe. Wollen Sie den Ausgang Ihrer laufenden Fälle noch miterleben? Dann würde ich an Ihrer Stelle für Ergebnisse sorgen.«

      Hinter mir knackte Sergej mit den Fingern.

      »Und, meine Güte, können Sie sich nicht was Anständiges anziehen? Wenn Sie mit diesen Leuten reden wollen«, er tippte auf die Zeitungsmeldung, »sollten Sie nicht aussehen wie ein Penner.«

      Stumm zuckte ich die Schultern. Was hätte ich auch antworten sollen? Dass meine gute Kleidung in der Reinigung war? Ich hätte ebenso nackt vor Sharp sitzen können und hätte mich kaum weniger entblößt gefühlt.

      Das Glasauge fluppte zurück in seine Höhle und Sharp griff unter die Tischplatte.

      Ich hielt den Atem an. Was von dort kam, war in der Regel unerfreulich.

      Doch er zog ein Bündel mit Scheinen hervor und zählte fünf Hunderter