Vielleicht beschreibt „Seele“ auch das, was von uns bleibt, wenn wir den Container unseres Körpers verlassen. Manche Religionen glauben, die Seele steige dann zu Gott empor, kehre förmlich nach Hause zurück. Andere glauben, Seelen versammeln sich bei ihren Ahnen. Wieder andere sind der Überzeugung, die Seele suche sich nach dem Tod ihres Körpers immer wieder eine neue irdische Heimstadt. Je nachdem, wie sie im alten Leben bestanden hat, dann in einer Maus, einem Adler, einem Bettler oder einer Königin.
Schon die unfassbar kunstfertigen Höhlenmaler der Cro-Magnon-Zeit vor 25.000 Jahren haben die Seele gemalt. In der Höhle von Lascaux zum Beispiel zeichneten unsere Vorfahren einen toten Menschen mit einem Vogelkopf und neben diesem Toten (der offenbar von einem Bison angegriffen worden war) ragt ein Stab empor, auf dessen Spitze ein kleiner Vogel sitzt, im Begriffe, sich in die Lüfte zu schwingen.2
Bis heute schaffen Künstler ungezählte Bilder, um die Seele einzufangen: eine junge Frau, ein Säugling, ein Vogel, ein Schmetterling, der sich aus seiner Verpuppung befreit. Oder elementar: die Seele als Wind, als Hauch, Feuer, Licht, Wasser oder Rauch. Sie streicht vorbei, lodert und leuchtet. Macht sich bemerkbar als Schatten, Spiegelbild, Klang. Der Seele haftet stets etwas Unfassliches, Wandelbares, Luftiges und Flüchtiges an. Wenn wir von Seele sprechen, meinen wir das Prinzip Leben, Weiterleben, Überleben. Und die Fähigkeit des Menschen, über sich hinauszuwachsen und zugleich verhaftet zu sein im Netzwerk der Geschöpfe.
Mit dem Begriff der Seele beschreiben wir auch die Spannung zwischen unserer unrettbaren Leiblichkeit und unserer rettungslosen Sehnsucht nach Transzendenz. Unser unaufhörliches Streben nach einem anderen Leben und nach einem Gott. Visionen und Träume, Fantasien und Utopien, all das findet Ursprung und Heimat in dem Spielraum, den wir Seele nennen. Sie ist bei jedem Menschen einzigartig wie der Fingerabdruck, das Ohr oder die Iris.
Die Seele ist das, was uns Menschen als Geschöpf unter Geschöpfen ausmacht. In manchen Kulturkreisen gibt es bis heute die Angst, die Seele könnte verloren gehen, wenn jemand auf ein Foto gebannt wird. Offenbar haben wir geradezu archaische Reflexe, um unsere Seele zu schützen.
Das Aussterben des Gedankensystems rund um die Seele begann mit dem Philosophen, Mathematiker und Aufklärer René Descartes. Mit dem Satz „Ich denke, also bin ich“ wurde er berühmt. Das Gehirn war für ihn das Zentralorgan des Menschen, den er sich ein bisschen wie eine Maschine vorstellte. Diese Spur ist bis heute erkennbar in den Computerwissenschaften, die das Gehirn als Modell für Computernetze denken – und den Menschen als Programm. Mit Descartes begann die Geistesgeschichte systematisch damit, das Seelenleben zuzubetonieren oder auszuradieren.
Andere, neue Worte wurden gefunden („Person“, „Persönlichkeit“, „Ich“, „Selbst“), um den Menschen zu beschreiben, der nun sein eigener Mittelpunkt wurde und darin einzigartig und eigenartig. Nicht länger ein „Geschöpf“, dem etwas (die Seele) von außen eingehaucht werden musste. Heute kann man das menschliche Gehirn in vielen seiner Funktionen beschreiben, zum Teil auch simulieren. Aber kann man mit „Person“, „Selbst“ oder mit „Ich“ die Idee der Seele wirklich ersetzen?
Die politische Philosophin und Mystikerin Simone Weil schreibt 1952 in „Schwerkraft und Gnade“:
Die vollkommene Freude schließt eigentlich das eigene Empfinden der Freude aus, denn in der ganz von ihrem Gegenstand erfüllten Seele ist auch nicht der kleinste Raum mehr verfügbar, um „ich“ zu sagen.3
Seele – ist das womöglich mehr als Ich, Person oder Persönlichkeit? In der Theologie stand das Wort Seele immer für die Unverfügbarkeit des eigenen Lebens, stand für das Leben als Gabe und Geschenk. Es könnte daher sein, dass wir gerade dabei sind, unsere Seele zu verkaufen. Denn die Digitalisierung hat uns nicht nur Amazon beschert, Wikipedia und die Google-Suchmaschine, ohne die man sich das Leben gar nicht mehr vorstellen kann. Sie ist auch dabei, unsere Gefühle, Empfindungen, Meinungen und Ansichten zu vermessen und zu beeinflussen. Mit Hilfe digitaler Logiken werden wir erfasst und errechnet, wir bekommen zu sehen, was der Algorithmus uns sehen lassen will, wir bekommen mitgeteilt, was ein Computer für richtig hält und wir bekommen gesagt, diese Rechenmaschinen seien schneller, präziser, effizienter und letztlich besser als wir selbst – ihre Schöpfer, die Menschen. Rechenmaschinen empfehlen, welche Wege wir mit dem Auto nehmen, was wir essen, kaufen und denken sollen. Es gibt einen Club von Wissenschaftlern, die heute schon davon träumen, irgendwann Gehirne auf Datenträger zu speichern, den lästigen Körper hinter sich zu lassen und in den digitalen Raum zu entschwinden. Auf ewig und damit unsterblich.
Die Vorstellung von der Seele aber – und alles, was an Bedeutungen in diesem Wort haust – widerspricht der Logik von 0/1-Entscheidungen. Seele ist ein Wort des Widerstands gegen die Kontrolle über das Empfinden. Denn: Von der Seele reden heißt, die leibliche Existenz bejahen, heißt Spannungen aushalten, dem Menschen Gutes und Großes zutrauen, heißt, die menschliche Kraft der Sehnsucht, der Vision und der Erfindung bewundern, heißt: gut vom Menschen denken, weil er ein gottgewolltes Geschöpf ist.
Von diesem Geschöpf singt im Alten Testament der Psalm 8:
Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. (Psalm 8,4–6)4
Wir wissen, was wir mit den neuen Techniken der Digitalisierung und der Vernetzung gewonnen haben. Die Frage ist jetzt: Was verlieren wir, wenn wir den Menschen als Modell für den Computer betrachten? Und: Welcher Reichtum an religiösen, geisteswissenschaftlichen, philosophischen und poetischen Welten wird mit dem kleinen Wort Seele untergehen?
Vom Erlöschen der Seele
Als der Schriftsteller Hermann Hesse zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer Indienreise zurückkehrt, schreibt er Reiseerinnerungen nieder, in denen er seiner Bewunderung für die östlichen Kulturen Ausdruck verleiht. Im Vergleich zu ihnen hadert er mit der Seelenvergessenheit des Westens, die Hesse mit der Religiosität der Menschen zusammendenkt.
Er schreibt 1914:
Schließlich aber ist doch ein menschlicher Eindruck der stärkste. Es ist der der religiösen Gebundenheit all dieser Millionen Seelen. Der ganze Osten atmet Religion, wie der Westen Vernunft und Technik atmet. Primitiv und jedem Zufall preisgegeben scheint das Seelenleben des Abendländers, verglichen mit der geschirmten, gepflegten, vertrauensvollen Religiosität des Asiaten, er sei Buddhist oder Mohammedaner oder was immer. Dieser Eindruck beherrscht alle anderen, denn hier zeigt der Vergleich eine Stärke des Ostens, eine Not und Schwäche des Abendlandes, und hier fühlen sich alle Zweifel, Sorgen und Hoffnungen unserer Seele bestärkt und bestätigt. Überall erkennen wir die Überlegenheit unserer Zivilisation und Technik, und überall sehen wir die religiösen Völker des Ostens noch ein Gut genießen, das uns fehlt und das wir eben darum höherstellen als jene Überlegenheiten. Es ist klar, dass kein Import aus Osten uns hier helfen kann, kein Zurückgehen auf Indien oder China, auch kein Zurückflüchten in ein irgendwie formuliertes Kirchenchristentum. Aber es ist ebenso klar, dass Rettung und Fortbestand der europäischen Kultur nur möglich ist durch das Wiederfinden seelischer Lebenskunst und seelischen Gemeinbesitzes. Ob Religion etwas sei, das überwunden und ersetzt werden könne, mag Frage bleiben. Dass Religion oder deren Ersatz das ist, was uns zutiefst fehlt, das ist mir nie so unerbittlich klar geworden wie unter den Völkern Asiens.5
Hesse schreibt diese Worte nieder am Vorabend des ersten Weltkriegs. Die Industrialisierung hat sich in Europa ausgebreitet, die Ingenieurskunst einen rasanten Fortschritt angeschoben. Der Kohleabbau, die Stahlproduktion, die aufstrebende Automobilindustrie und die Waffenindustrie werden zu Motoren der wirtschaftlichen Entwicklung. Deutschland ist hochgerüstet, ebenso die anderen europäischen Länder. Es raucht und stampft in den Zentren der Industrie.
Das Milieu der Arbeiter hat sich in politischen Parteien definiert und es regt sich der Zweifel bei europäischen Intellektuellen,