Madame Bovary. Sittenbild aus der Provinz. Gustave Flaubert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gustave Flaubert
Издательство: Bookwire
Серия: Reclam Taschenbuch
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159618975
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einsetzt, eine Ordensschnalle mit dem Kreuz auf ihrem schlecht geschneiderten schwarzen Frack tragen? Sie hätte es gern gesehen, dass der Name Bovary, der ja auch der ihre war, berühmt geworden wäre, dass sie ihn in den Auslagen der Buchhändler hätte sehen können, häufig in den Zeitungen genannt, in ganz Frankreich bekannt. Aber Charles besaß nicht die Spur von Ehrgeiz! Ein Arzt aus Yvetot, mit dem er unlängst gemeinsam gerufen worden war, hatte ihn am Bett des Patienten und vor dessen gesamter Verwandtschaft ein wenig blamiert. Als Charles ihr abends die Geschichte erzählt hatte, war Emma tief empört über diesen Kollegen gewesen. Charles war gerührt. Tränenden Auges küsste er sie auf die Stirn. Sie jedoch war außer sich vor Scham, sie hatte Lust, ihm ins Gesicht zu schlagen; sie ging hinaus auf den Korridor, machte das Fenster auf und atmete die frische Luft, um sich zu beruhigen.

      »Solch ein Jammerlappen! Solch ein Jammerlappen!«, sagte sie ganz leise vor sich hin und zerbiss sich die Lippen.

      Übrigens fühlte sie, dass er ihr mehr und mehr auf die Nerven ging. Mit der Zeit nahm er allerlei unmanierliche Gewohnheiten an. Beim Nachtisch zerschnippelte er den Kork der leeren Flaschen; nach dem Essen leckte er sich die Zähne mit der Zunge ab; wenn er seine Suppe löffelte, schmatzte er bei jedem Schluck; und da er anfing, dick zu werden, wirkten seine an sich schon kleinen Augen durch die Aufschwellung seiner Backen wie nach den Schläfen hin eingesunken.

      Manchmal schob ihm Emma den roten Saum seiner gestrickten Unterjacke in die Weste, zupfte ihm die Halsbinde zurecht oder warf ein Paar verschossener Handschuhe weg, die er sich gerade angezogen hatte; aber das geschah nicht, wie er meinte, ihm zuliebe; es geschah lediglich um ihretwillen, aus einer egoistischen Regung, aus nervöser Gereiztheit. Manchmal erzählte sie ihm auch Dinge, die sie gelesen hatte, etwa eine Episode aus einem Roman, aus einem neuen Bühnenstück oder ein Vorkommnis aus der »großen Welt«, über das im Feuilleton berichtet worden war; denn schließlich war Charles doch jemand, ein offnes Ohr, eine stets bereite Billigung. Wie oft hatte sie ihrem Windspiel etwas anvertraut! Sie hätte es auch den Kaminscheiten oder dem Uhrpendel sagen können.

      Im tiefsten Grund ihrer Seele wartete sie indessen auf ein Ereignis. Wie die Matrosen in Seenot ließ sie verzweifelte Blicke über die Öde ihres Daseins schweifen und suchte fern in den dunstigen Weiten ein weißes Segel. Dabei wusste sie nicht, wie dieser Zufall beschaffen sein würde, dieser Wind, der es ihr zutriebe, zu welchem Gestade er sie führen, ob es eine Schaluppe oder ein Schiff mit drei Decks sein würde, ob beladen mit Ängsten oder mit Glückseligkeiten bis an die Stückpforten. Und jeden Morgen beim Erwachen erhoffte sie es für diesen Tag, und sie lauschte auf alle Geräusche, fuhr hoch und war betroffen, dass es nicht kam; wenn dann die Sonne sank, wurde sie noch trübsinniger und sehnte den nächsten Tag herbei.

      Es wurde wieder Frühling. Als die erste Hitze einsetzte und die Birnbäume zu blühen begannen, bekam sie Atembeschwerden.

      Seit Julianfang zählte sie an den Fingern ab, wie viel Wochen es noch bis zum Oktober seien; sie meinte, möglicherweise werde der Marquis d’Andervilliers wieder einen Ball auf La Vaubyessard geben. Aber der ganze September verrann, ohne dass Briefe oder Besuche gekommen wären.

      Nach dem Verdruss über diese Enttäuschung blieb ihr Herz abermals leer, und nun begann die Reihe der immergleichen Tage von neuem.

      Sie sollten also fortan einander folgen im Gänsemarsch, unzählig, und nichts mit sich bringen! Alle anderen Daseinsformen, so platt sie auch sein mochten, bargen doch wenigstens die Möglichkeit eines Erlebnisses. Ein Abenteuer führte bisweilen unglaubwürdige Schicksalswenden herbei, und die Szenerie änderte sich. Ihr jedoch stieß nichts zu, Gott hatte es so gewollt! Die Zukunft war ein stockfinsterer Korridor, und die Tür ganz hinten war gut verschlossen.

      Sie gab das Musizieren auf; wozu denn spielen? Wer hörte ihr zu? Da es ihr ja doch nicht vergönnt war, in samtener Robe mit kurzen Ärmeln auf einem Erard-Flügel in einem Konzertsaal mit ihren leichten Fingern die Elfenbeintasten anzuschlagen und wie eine Brise rings um sich her ein ekstatisches Gemurmel zu hören, lohnte das langweilige Üben nicht. Sie ließ auch ihre Zeichenblöcke und ihre Stickarbeit im Schrank liegen. Wozu denn? Wozu denn? Das Nähen machte sie gereizt.

      »Ich habe alles gelesen«, sagte sie sich.

      Und so saß sie da und ließ die Feuerzange rotglühend werden oder sah dem fallenden Regen zu.

      Wie traurig war sie sonntags, wenn es zur Vesper läutete! Sie hörte in aufmerksamem Stumpfsinn die dünnen Schläge der Glocke erschallen, einen nach dem andern. Eine Katze schlich langsam über die Dächer und machte in den bleichen Sonnenstrahlen einen Buckel. Auf der Landstraße blies der Wind Staubschleppen auf. Manchmal heulte in der Ferne ein Hund, und andauernd tönte in gleichen Zeitmaßen der monotone Glockenschlag und verlor sich über den Feldern.

      Inzwischen kamen die Leute aus der Kirche. Die Frauen in blanken Schuhen, die Bauern in neuen Kitteln, die mit bloßen Köpfen vor ihnen herhüpfenden Kinder, alle gingen heim. Nur fünf bis sechs Männer, immer dieselben, blieben vor dem großen Tor des Gasthofs beim Pfropfenspiel, bis es dunkelte.

      Der Winter wurde kalt. Jeden Morgen waren die Fensterscheiben mit Eisblumen bedeckt, und das Tageslicht, das weißlich hindurchdrang wie durch Mattglas, blieb manchmal den ganzen Tag über unverändert. Von vier Uhr nachmittags an musste die Lampe angesteckt werden.

      An Schönwettertagen ging sie in den Garten hinab. Der Tau hatte auf den Kohlköpfen silbernes Spitzenwerk mit langen, hellen Fäden hinterlassen, die sich vom einen zum andern spannten. Kein Vogel war zu hören, alles schien zu schlafen, das Spalier war mit Stroh umwickelt, und die Rebranke hing wie eine große, kranke Schlange unter der Mauerkappe, wo man, wenn man näher hinzutrat, vielfüßige Asseln umherkriechen sah. Der Pfarrer mit dem Dreispitz in der Tannengruppe nahe der Hecke, der sein Brevier las, hatte den rechten Fuß verloren, und der durch den Frost abblätternde Gips hatte auf seinem Gesicht helle Räudeflecken entstehen lassen.

      Dann ging sie wieder hinauf, schloss die Tür ab, legte Kohlen nach, und während die Kaminwärme sie benommen machte, fühlte sie die auf sie niedersinkende Langeweile noch schwerer. Gern wäre sie hinuntergegangen und hätte sich mit dem Hausmädchen unterhalten; aber die Scham hielt sie zurück.

      Alle Tage zur gleichen Stunde öffnete der Schulmeister mit dem schwarzen Seidenkäppchen die Fensterläden seines Hauses, und der Feldhüter ging vorbei, den Säbel über den Kittel geschnallt. Abends und morgens überquerten die Postpferde, immer drei und drei, die Straße, um im Dorfteich zu trinken. Von Zeit zu Zeit ließ die Tür einer Schenke ihre Schelle ertönen, und an windigen Tagen hörte man die beiden kleinen Messingbecken an der Tür des Friseurs scheppern, die dem Laden als Aushängeschilder dienten. Als Schaufensterdekoration hatte er ein altes, an die Scheibe geklebtes Modekupfer sowie eine Frauenbüste aus Wachs mit gelber Perücke. Auch er, der Friseur, jammerte über seine zunichte gewordene Berufung, seine verpfuschte Zukunft; er träumte von einem Laden in einer Großstadt wie Rouen beispielsweise, am Hafen, in der Nähe des Theaters; den ganzen Tag über lief er zwischen dem Bürgermeisteramt und der Kirche auf und ab und wartete auf Kundschaft. Wenn Madame Bovary die Augen hob, sah sie ihn stets dort wie eine Wache auf Posten in seiner Lastingjacke, die phrygische Mütze auf dem Ohr.

      Nachmittags erschien manchmal vor den Fenstern des großen Zimmers ein sonnengebräunter Männerkopf mit schwarzem Backenbart und lächelte langsam mit weißen Zähnen sein sanftes Lächeln. Alsbald begann dann eine Walzermelodie, und auf dem Orgelkasten drehten sich in einem kleinen Salon fingergroße Tänzer, Frauen mit rosa Turbanen, Tiroler in Jacken, Affen in schwarzen Fräcken, Herren in Kniehosen, und sie drehten und drehten sich zwischen den Sesseln, den Sofas, den Konsolen und wurden von den Spiegelstücken gespiegelt, die in ihren Winkeln durch einen Streifen Goldpapier zusammengehalten wurden. Der Mann drehte die Kurbel und spähte nach rechts und nach links und nach den Fenstern. Hin und wieder hob er mit dem Knie sein Instrument, dessen harter Gurt ihm die Schulter ermüdete, und spie dabei einen langen Strahl braunen Speichels gegen den Prellstein; und immerfort, bald schmerzlich und schleppend oder lustig und flott kam die Musik dudelnd durch einen rosa Taftvorhang aus dem Kasten, unter einer verschnörkelten Messingleiste. Es waren Melodien, die anderswo in den Theatern gespielt wurden, die man in den Salons sang, nach denen man abends unter brennenden Kronleuchtern tanzte, Echos der Welt,