Hiob. Roman eines einfachen Mannes. Йозеф Рот. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Йозеф Рот
Издательство: Bookwire
Серия: Reclam Taschenbuch
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159618951
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musste, dass er gewohnt war, draußen zu warten, vor den Häusern. Aber gerade dieser Entschluss des Mannes versetzte die Familie Mendel Singers in noch hitzigere Aufregung. Immer wieder sahen sie den blau bemützten Mann wie einen Wachtposten vor dem Fenster erscheinen, und immer heftiger wurden ihre Bewegungen. Sie packten Schemarjahs Sachen ein, einen Anzug, Gebetriemen, Reiseproviant, ein Brotmesser. Mirjam holte die Gegenstände herbei, immer mehr schleppte sie heran, Menuchim, der bereits mit dem Kopf bis zum Tisch reichte, reckte neugierig und stupide das Kinn und lallte unaufhörlich das eine Wort, das er konnte: Mama. Mendel Singer stand am Fenster und trommelte gegen die Scheibe. Deborah weinte lautlos, eine Träne nach der anderen schickten ihre Augen zu dem verzogenen Mund. Als Schemarjahs Bündel fertig war, erschien es allen viel zu kümmerlich, und sie suchten mit hilflosen Augen das Zimmer ab, um noch irgendeinen Gegenstand zu entdecken. Bis zu diesem Augenblick hatten sie nichts miteinander gesprochen. Jetzt, da das weiße Bündel neben dem Stock auf dem Tisch lag, wandte sich Mendel Singer vom Fenster ab und der Stube zu und sagte zu seinem Sohn: »Du wirst uns sofort und so schnell wie es dir möglich ist, Nachricht zukommen lassen, vergiss es nicht!« Deborah schluchzte laut auf, breitete die Arme aus und umfing ihren Sohn. Lange umklammerten sie sich. Dann löste sich Schemarjah gewaltsam los, schritt auf seine Schwester zu und küsste sie mit knallenden Lippen auf beide Wangen. Sein Vater breitete die Hände segnend über ihn und murmelte hastig etwas Unverständliches. Furchtsam näherte sich darauf Schemarjah dem glotzenden Menuchim. Zum ersten Mal galt es, das kranke Kind zu umarmen, und es war Schemarjah, als hätte er nicht einen Bruder zu küssen, sondern ein Symbol, das keine Antwort gibt. Jeder hätte gerne noch etwas gesagt. Aber keiner fand ein Wort. Sie wussten, dass es ein Abschied für immer war. Im besten Fall geriet Schemarjah heil und gesund ins Ausland. Im schlimmsten Fall wurde er an der Grenze gefangen, dann hingerichtet oder von den Grenzposten an Ort und Stelle erschossen. Was soll man einander sagen, wenn man Abschied fürs Leben nimmt?

      Schemarjah schulterte das Bündel und stieß die Tür mit dem Fuß auf. Er sah sich nicht mehr um. Er versuchte, in dem Augenblick, in dem er über die Schwelle trat, das Haus und alle seine Angehörigen zu vergessen. Hinter seinem Rücken ertönte noch einmal ein lauter Schrei Deborahs. Die Tür schloss sich wieder. Mit dem Gefühl, dass seine Mutter ohnmächtig hingestürzt sei, näherte sich Schemarjah seinem Begleiter. »Gleich hinter dem Marktplatz«, sagte der Mann mit der blauen Mütze, »erwarten uns die Pferde.« Als sie an Sameschkins Hütte vorbeikamen, blieb Schemarjah stehn. Er warf einen Blick in den kleinen Garten, dann in den offenen leeren Stall. Sein Bruder Jonas war nicht da. Einen wehmütigen Gedanken hinterließ er dem verlorenen Bruder, der sich freiwillig geopfert hatte, wie Schemarjah immer noch glaubte. »Er ist ein Grobian, aber edel und tapfer«, dachte er. Dann ging er mit gleichmäßigen Schritten an der Seite des Fremden weiter.

      Gleich hinter dem Marktplatz trafen sie die Pferde, wie der Mann gesagt hatte. Nicht weniger als drei Tage brauchten sie, bis sie zur Grenze kamen, denn sie mieden die Eisenbahn. Es erwies sich unterwegs, dass der Begleiter Schemarjahs genau Bescheid im Lande wusste. Er gab es zu erkennen, ohne das ihn Schemarjah gefragt hätte. Auf die fernen Kirchtürme deutete er und nannte die Dörfer, zu denen sie gehörten. Er nannte die Gehöfte und die Güter und die Namen der Gutsbesitzer. Er zweigte oft von der breiten Straße ab und fand sich auf schmalen Wegen in kürzerer Zeit zurecht. Es war, als wollte er Schemarjah noch schnell mit der Heimat vertraut machen, ehe der junge Mann auszog, eine neue zu suchen. Er säte das Heimweh fürs ganze Leben in das Herz Schemarjahs.

      Eine Stunde vor Mitternacht kamen sie zur Grenzschenke. Es war eine stille Nacht. Die Schenke stand in ihr als einziges Haus, ein Haus in der Stille der Nacht, stumm, finster, mit abgedichteten Fenstern, hinter denen kein Leben zu ahnen war. Millionen Grillen umzirpten es unaufhörlich, der wispernde Chor der Nacht. Sonst störte sie keine Stimme. Flach war das Land, der gestirnte Horizont zog einen vollendet runden tiefblauen Kreis darum, der nur im Nordosten durch einen hellen Streifen unterbrochen war, wie ein blauer Ring von einem Stück eingefassten Silber. Man roch die ferne Feuchtigkeit der Sümpfe, die sich im Westen ausbreiteten, und den langsamen Wind, der sie herübertrug. »Eine schöne echte Sommernacht!«, sagte der Bote Kapturaks. Und zum ersten Mal, seitdem sie zusammen waren, ließ er sich herbei, von seinem Geschäft zu sprechen: »Man kann in so stillen Nächten nicht immer ohne Schwierigkeiten hinüber. Für unsere Unternehmungen sind Regen nützlicher.« Er warf eine kleine Angst in Schemarjah. Da die Schenke, vor der sie standen, stumm und geschlossen war, hatte Schemarjah nicht an ihre Bedeutung gedacht, bis ihn die Worte des Begleiters an sein Vorhaben erinnerten. »Gehen wir hinein!«, sagte er, wie einer, der die Gefahr nicht länger aufschieben will. »Brauchst dich nicht zu eilen, wir werden lange genug warten müssen!«

      Er trat dennoch ans Fenster und klopfte leise an den hölzernen Laden. Die Tür öffnete sich und entließ einen breiten Strom gelben Lichts über die nächtliche Erde. Sie traten ein. Hinter der Theke, genau im Lichtkegel einer Hängelampe, stand der Wirt und nickte ihnen zu, auf dem Fußboden hockten ein paar Männer und würfelten. An einem Tisch saß Kapturak mit einem Mann in Wachtmeisteruniform. Niemand sah auf. Man hörte das Klappern der Würfel und das Ticken der Wanduhr. Schemarjah setzte sich. Sein Begleiter bestellte zu trinken. Schemarjah trank einen Schnaps, er wurde heiß, aber ruhig. Sicherheit fühlte er wie noch nie; er wusste, dass er eine der seltenen Stunden erlebte, in denen der Mensch an seinem Schicksal nicht weniger zu formen hat, als die große Gewalt, die es ihm beschert.

      Kurz nachdem die Uhr Mitternacht geschlagen hatte, knallte ein Schuss, hart und scharf, mit einem langsam verrinnenden Echo. Kapturak und der Wachtmeister erhoben sich. Es war das verabredete Zeichen, mit dem der Posten zu verstehen gab, dass die nächtliche Kontrolle des Grenzoffiziers vorbei war. Der Wachtmeister verschwand. Kapturak mahnte die Leute zum Aufbruch. Alle erhoben sich träge, schulterten Bündel und Koffer, die Tür ging auf, sie tropften einzeln in die Nacht hinaus und traten den Weg zur Grenze an. Sie versuchten zu singen, irgendjemand verbot es ihnen, es war Kapturaks Stimme. Man wusste nicht, ob sie aus den vorderen Reihen herkam, aus der Mitte, aus der letzten. Sie schritten also schweigsam durch das dichte Zirpen der Grillen und das tiefe Blau der Nacht. Nach einer halben Stunde kommandierte ihnen Kapturaks Stimme: Niederlegen! Sie ließen sich auf den taufeuchten Boden fallen, lagen reglos, pressten die klopfenden Herzen gegen die nasse Erde, Abschied der Herzen von der Heimat. Dann befahl man ihnen aufzustehn. Sie kamen an einen seichten breiten Graben, ein Licht blinkte links von ihnen auf, es war das Licht der Wächterhütte. Sie setzten über den Graben. Pflichtgemäß, aber ohne zu zielen, feuerte hinter ihnen der Posten sein Gewehr ab.

      »Wir sind draußen!«, rief eine Stimme.

      In diesem Augenblick lichtete sich der Himmel im Osten. Die Männer wandten sich um, zur Heimat, über der noch die Nacht zu liegen schien, und kehrten sich wieder dem Tag und der Fremde zu.

      Einer begann zu singen, alle fielen ein, singend setzten sie sich in Marsch. Nur Schemarjah sang nicht mit. Er dachte an seine nächste Zukunft (er besaß zwei Rubel); an den Morgen zu Haus. In zwei Stunden erhob sich daheim der Vater, murmelte ein Gebet, räusperte sich, gurgelte, ging zur Schüssel und verspritzte Wasser. Die Mutter blies in den Samowar. Menuchim lallte irgendetwas in den Morgen hinein, Mirjam kämmte weiße Flaumfedern aus ihrem schwarzen Haar. All dies sah Schemarjah so deutlich, wie er es nie gesehn hatte, als er noch zu Hause gewesen war und selbst ein Bestandteil des heimatlichen Morgens. Er hörte kaum den Gesang der andern, nur seine Füße nahmen den Rhythmus auf und marschierten mit.

      Eine Stunde später erblickte er die erste fremde Stadt, den blauen Rauch aus den ersten fleißigen Schornsteinen, einen Mann mit einer gelben Armbinde, der die Ankömmlinge in Empfang nahm. Von einer Turmuhr schlug es sechs.

      Auch von der Wanduhr der Singers schlug es sechs. Mendel erhob sich, gurgelte, räusperte sich, murmelte ein Gebet, Deborah stand bereits am Herd und pustete in den Samowar, Menuchim lallte aus seiner Ecke etwas Unverständliches, Mirjam kämmte sich vor dem erblindeten Spiegel. Dann schlürfte Deborah den heißen Tee, stehend, immer noch am Herd. »Wo ist jetzt Schemarjah?«, sagte sie plötzlich. Alle hatten an ihn gedacht. »Gott wird ihm helfen!«, sagte Mendel Singer. Und also brach der Tag an.

      Also brachen die folgenden Tage an, leere Tage, kümmerliche Tage. »Ein Haus ohne Kinder«, dachte Deborah. »Alle hab’ ich geboren, alle hab’ ich gesäugt, ein Wind hat sie weggeblasen.« Sie sah sich nach