III. Und der allgemeine, philosophische, menschenfreundliche Ton unsres Jahrhunderts gönnet jeder entfernten Nation, jedem ältesten Zeitalter der Welt, an Tugend und Glückseligkeit so gern »unser eigen Ideal«? ist so alleiniger Richter, ihre Sitten nach sich allein zu beurteilen? zu verdammen? oder schön zu dichten? Ist nicht das Gute auf der Erde ausgestreut? Weil eine Gestalt der Menschheit und ein Erdstrich es nicht fassen konnte, ward’s verteilt in tausend Gestalten, wandelt – ein ewiger Proteus! durch alle Weltteile und Jahrhunderte hin – auch, wie er wandelt und fortwandelt, ist’s nicht größere Tugend oder Glückseligkeit des Einzelnen, worauf er strebet, die Menschheit bleibt immer nur Menschheit – und [45]doch wird ein Plan des Fortstrebens sichtbar – mein großes Thema!
Wer’s bisher unternommen, den Fortgang der Jahrhunderte zu entwickeln, hat meistens die Lieblingsidee auf der Fahrt: Fortgang zu mehrerer Tugend und Glückseligkeit einzelner Menschen. Dazu hat man alsdenn Fakta erhöhet oder erdichtet: Gegenfakta verkleinert oder verschwiegen; ganze Seiten bedeckt; Wörter für Wörter genommen, Aufklärung für Glückseligkeit, mehrere und feinere Ideen für Tugend – und so hat man »von der allgemein fortgehenden Verbesserung der Welt« Romane gemacht – die keiner glaubte, wenigstens nicht der wahre Schüler der Geschichte und des menschlichen Herzens.
Andre, die das Leidige dieses Traums sahen und nichts Bessers wussten – sahen Laster und Tugenden wie Klimaten wechseln, Vollkommenheiten wie einen Frühling von Blättern entstehen und untergehen, menschliche Sitten und Neigungen wie Blätter des Schicksals fliegen, sich umschlagen – kein Plan! kein Fortgang! ewige Revolution – Weben und Aufreißen! – Penelopische Arbeit! – Sie fielen in einen Strudel, Skeptizismus an aller Tugend, Glückseligkeit und Bestimmung des Menschen, in den sie alle Geschichte, Religion und Sittenlehre flochten – – der neueste Modeton der neuesten, in Sonderheit französischen Philosophen,j [46]ist Zweifel! Zweifel in hundert Gestalten, alle aber mit dem blendenden Titel »aus der Geschichte der Welt!« Widersprüche und Meereswogen: man scheitert, oder was man von Moralität und Philosophie aus dem Schiffbruche rettet, ist kaum der Rede wert.
Sollte es nicht offenbaren Fortgang und Entwicklung aber in einem höhern Sinne geben, als man’s gewähnet hat? Siehest du diesen Strom fortschwimmen: wie er aus einer kleinen Quelle entsprang, wächst, dort abreißt, hier ansetzt, sich immer schlängelt und weitet und tiefer bohret – bleibt aber immer Wasser! Strom! Tropfe! immer nur Tropfe, bis er ins Meer stürzt – wenn’s so mit dem menschlichen Geschlechte wäre? Oder siehest du jenen wachsenden Baum! jenen emporstrebenden Menschen! er muss durch verschiedne Lebensalter hindurch! alle offenbar im Fortgange! ein Streben aufeinander in Kontinuität! Zwischen jedem sind scheinbare Ruheplätze, Revolutionen! Veränderungen! und dennoch hat jedes den Mittelpunkt seiner Glückseligkeit in sich selbst! Der Jüngling ist nicht glücklicher als das unschuldige, zufriedne Kind: noch der ruhige Greis unglücklicher als der heftig strebende Mann: der Pendul schlägt immer mit gleicher Kraft, wenn er am weitesten ausholt und desto schneller strebt, oder wenn er am langsamsten schwanket und sich der Ruhe nähert. Indes ist’s doch ein ewiges Streben! Niemand ist in seinem Alter allein, er bauet auf das Vorige, dies wird nichts als Grundlage der Zukunft, will nichts als solche sein – so spricht die [47]Analogie in der Natur, das redende Vorbild Gottes in allen Werken! offenbar so im Menschengeschlechte! Der Ägypter konnte nicht ohne den Orientalier sein, der Grieche bauete auf jene, der Römer hob sich auf den Rücken der ganzen Welt – wahrhaftig Fortgang, fortgehende Entwicklung, wenn auch kein Einzelnes dabei gewönne! Es geht ins Große! es wird, womit die Hülsengeschichte so sehr prahlet, und wovon sie so wenig zeigt – Schauplatz einer leitenden Absicht auf Erden! wenn wir gleich nicht die letzte Absicht sehen sollten, Schauplatz der Gottheit, wenngleich nur durch Öffnungen und Trümmer einzelner Szenen.
Wenigstens ist der Blick weiter als jene Philosophie, die unter-über mischt, nur immer hie und da, bei einzelnen Verwirrungen sich aufhält, um alles zum Ameisenspiele, zum Gestrebe einzelner Neigungen und Kräfte ohne Zweck, zum Chaos zu machen, in dem man an Tugend, Zweck und Gottheit verzweifelt! Wenn’s mir gelänge, die disparatsten Szenen zu binden, ohne sie zu verwirren – zu zeigen, wie sie sich aufeinander beziehen, aus einander erwachsen, sich ineinander verlieren, alle im Einzelnen nur Momente, durch den Fortgang allein Mittel zu Zwecken – welch ein Anblick! welch edle Anwendung der menschlichen Geschichte! welche Aufmunterung zu hoffen, zu handeln, zu glauben, selbst wo man nichts oder nicht alles sieht! – Ich fahre fort – – –
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