»Tugend« (aretê) bedeutet allgemein eine Vollkommenheit, die einer Handlung zukommt. Insofern ist die Tugend eine Vollendung jeder Handlung. In der Ethik ist die Tugend eine Art Superlativ: das Beste, das Äußerste und das dem Gutsein nach Höchste, die beste Haltung. Aristoteles betont, dass man für tugendhaftes Handeln soziale Anerkennung findet und deshalb auch gelobt wird. Die Tugend ist ein Gegenstand von Lobreden und wird in der Dichtung oder im Theater gleichsam modellhaft vorgeführt. Das Vortrefflichste beim Menschen, die höchste menschliche Tugend, ist in der Vernunft zu suchen. Je nach der Stellung eines Menschen in der Gesellschaft spielen unterschiedliche Tugenden eine vorrangige Rolle. Platon hatte die menschliche Seele in drei Teile eingeteilt, die man kurz mit Vernunft, Wille und Leidenschaft übersetzen kann. Aristoteles verwendet nur eine Zweiteilung. Er unterscheidet zwischen einem rationalen und einem irrationalen Seelenteil. Verstand und Vernunft werden gelehrt und in der Erziehung geübt. Die Tugenden, die den irrationalen Seelenteil, den Willen und die Leidenschaften formen, heißen bei Aristoteles die ethischen Tugenden. Sie formen das Ungeformte am Menschen. Während man Erkenntnisse durch die Vernunft, den Intellekt erwirbt, werden die ethischen Tugenden durch Gewohnheitsbildung anerzogen. Im Unterschied zu den ethischen Tugenden kennt Aristoteles auch die sogenannten dianoetischen Tugenden, die unmittelbar auf den Intellekt bezogen sind: Wissenschaft (epistêmê), Wohlberatenheit (euboulia), Klugheit (phronêsis), Weisheit (sophia), Verstand (synhesis) und Kunstfertigkeit (technê).
Die ethische Tugend formt gleichsam die ungebändigte Natur im Menschen (Wille und Trieb) und verwandelt ihn dadurch in ein soziales Wesen. Die Tugend bildet die Brücke zwischen den irrationalen Leidenschaften des Individuums – die vielfach egoistisch sind – und der menschlichen Gesellschaft. Aristoteles definiert »Tugend« als eine Kunst der Mitte:
»Es ist mithin die Tugend eine Gewohnheit (habitus) des Wählern, der die nach uns bemessene Mitte hält und durch die Vernunft: bestimmt wird, und zwar so, wie ein kluger Mann ihn zu bestimmen pflegt. Die Mitte liegt zwischen zwei fehlerhaften Gewohnheiten, dem Fehler des Übermaßes und dem Fehler des Mangels.«{31}
Die Tugend findet den Ausgleich, die Mitte zwischen den Extremen. Sie ist »ihrem Wesen nach Mitte«.
Das oberste Ziel allen menschlichen Handelns, das zu verwirklichen auch alle Tugenden letztlich dienen, ist das Glück oder die Glückseligkeit (eudaimonia; lat. beatitudo). Wörtlich bedeutet dieser Begriff bei Aristoteles: von einem guten (eu) Geist (daimon) begünstigt oder beseelt zu sein. Das Glück ist das höchste Ziel aller persönlichen oder politischen und sozialen Praxis.{32} »Glück« ist kein mehrdeutiger Begriff. Er kann aber unterschiedlich erläutert werden, etwa als »das gute Leben« oder »das Wohlergehen«. Allerdings wünscht sich jeder Mensch je nach der konkreten Lebenssituation etwas anderes. Glück findet man durch mehrere Bestimmungen, die sich nicht ausschließen müssen: Wohlergehen; Selbstgenügsamkeit; das angenehme, mit Sicherheit verbundene Leben und ein reicher Besitz. Dieses Glück hängt an drei Gütern: äußeren, körperlichen und seelischen. Der Glückliche muss alle drei besitzen. Wahres Lebensglück ist aber für Aristoteles letztlich ein geistiges Gut. So sagt er, dass »allein Philosophen das Lebensglück zukommen wird«, denn alle anderen Glücksformen hängen am Geist (Intellekt). Wenn auch Aristoteles die Tugenden recht pragmatisch am alltäglichen Leben orientiert, so gibt es doch auch eine gleichsam höhere Sichtweise auf die Welt. Er erkennt letztlich die Vergänglichkeit und Nichtigkeit des Daseins:
»Darum heißt es auch mit Recht, dass der Mensch ein Nichts sei und dass nichts von den menschlichen Dingen Bestand habe. Denn Kraft, Größe und Schönheit sind zum Lachen und nichts wert; sie erscheinen uns nur so, weil wir nichts genau zu sehen vermögen.«{33}
Hier nähert sich Aristoteles der buddhistischen Auffassung, eine Nähe, die durch die theistische Rezeption seiner Schriften im Mittelalter kaum ins allgemeine philosophische Bewusstsein getreten ist. Man könnte sagen, die aristotelische Morallehre orientiert sich an der Praxis der Gesellschaft, des alltäglichen Lebens. Dafür lehrt sie die Tugenden als Vollendung des Handelns, um dadurch jeweils in allen Situationen den mittleren Weg zu wählen. Letztlich ist aber eine moralische Vervollkommnung des Menschen nicht von der Welt, der Gesellschaft her zu interpretieren, sondern aus der Erkenntnis des eigenen Geistes, der eigenen Seele. Aristoteles sagt:
»Ehre und Ansehen, Dinge, die man mehr als das übrige zu erstreben pflegt, sind voll unbeschreiblichen Unsinns; denn wer etwas vom Ewigen erblickt hat, der findet es einfältig, sich um solche Dinge Mühe zu machen. Was ist langlebig oder dauerhaft unter den menschlichen Dingen? Nur wegen unserer Schwäche, so meine ich, und wegen der Kürze unseres Lebens scheint uns auch dieses groß. Wenn man dies in Betracht zieht, wer würde dann noch meinen, er sei glücklich und selig – wer von uns, die wir alle gleich von vornherein (wie es heißt, wenn man in die Mysterien eingeweiht wird) von Natur her entstanden sind, als ob wir zu büßen hätten? Denn göttlich ist der Spruch der Alten, wenn sie sagen, dass die Seele Buße zu zahlen habe und dass wir zur Strafe für irgendwelche großen Verfehlungen leben.«{34}
Was Aristoteles hier den »Spruch der Alten« nennt (er denkt vermutlich an Anaximander{35}), lässt sich auch als Einfluss der indischen Karmalehren auf die griechische Philosophie interpretieren. Die Lehre von der Wiedergeburt der Seele ist im alten Griechenland weit verbreitet. Gewöhnlich wird ihr Ursprung Pythagoras zugeschrieben; sie findet sich aber auch bei Pindar. Des Weiteren wurde diese Lehre von Empedokles und später von Platon vertreten und war im Neuplatonismus allgemein verbreitet. Gewöhnlich wird Aristoteles als Gegner des Reinkarnationsgedankens betrachtet. Er lehnte die individuelle Unsterblichkeit der Seele ab, sagte aber stets, dass beim Lernen und Erkennen die Menschen an ein vorher existierendes Wissen anknüpfen. So beginnt seine Schrift Analytica posteriora mit dem Satz: »Alles vernünftige Lehren und Lernen geschieht aus einer vorangehenden Erkenntnis.« Man kann deshalb sagen, dass die Reinkarnationslehre als moralische Lehre gleichwohl von Aristoteles akzeptiert wurde, wie der oben zitierte Text (Protreptikos) nahelegt. Es war wohl vorwiegend die theistische Aristoteles-Rezeption im Mittelalter, die alle Hinweise auf Reinkarnation als ein Moment der Erkenntnistheorie und der Morallehre auszublenden versuchte. Mit Blick auf die buddhistische Ethik kann ich abschließend Damien Keown über das Verhältnis zu Aristoteles zitieren:
»Die Parallele zwischen buddhistischer und aristotelischer Ethik ist, wie ich glaube, in vielerlei Hinsicht sehr eng. Die Ethik des Aristoteles scheint die nächste Analogie zur buddhistischen Ethik, und sie ist ein erhellender Führer zu einem Verständnis des buddhistischen Moralsystems. Sie ist umso wertvoller, weil die Exegese der aristotelischen Ethik ein anspruchsvolleres Niveau erreicht hat als die Ethik im Buddhismus.«{36}
2.3 THEOLOGISCHE MORALBEGRÜNDUNGEN
Die wichtigste Quelle moralischer Werte sind zweifellos die Religionen. Man kann alle Religionen in zwei große Gruppen einteilen: theistische und nichttheistische Religionen. Die theistischen Religionen gehen bei allen Unterschieden davon aus, dass alles, was existiert, von einem allmächtigen Schöpfergott (»Creator«) hervorgebracht worden ist. Die nicht theistischen Religionen verwenden dieses Konzept eines Schöpfergottes nicht – ohne es aber ausdrücklich zu bekämpfen, wie der Atheismus (frei übersetzt: »die Gottesgegnerschaft«). Der Atheismus stellt dem Begriff eines Schöpfergottes meist einen anderen obersten Begriff gegenüber: die Materie – so der kommunistische Atheismus – oder, wie der moderne Atheismus (z.B. Richard Dawkins), die Evolutionstheorie. Eine Sonderstellung nimmt der existentialistische Atheismus ein (vgl. Kapitel 2.6), der als obersten Begriff die menschliche Freiheit ansetzt.
Die nichttheistischen Religionen akzeptieren durchaus neben materiellen Gegebenheiten andere, geistige Formen. Sie berufen sich aber in ihrer Moralbegründung nicht auf eine göttliche Offenbarung