Kahlisch hatte noch nie in seinem Leben so viel gegessen. Die anderen ließen den einen oder anderen Essensgang aus. Sie waren schon geübt, ein so reichliches ungarisches Sonntagsessen schadlos zu überstehen.
Das Wohnzimmer lag zur Innenhofseite des Häuservierecks. Hier war es ruhig und kühl. Vom Fenster aus sah man auf die Etagengänge der Stockwerke des hohen Gebäudekomplexes aus der Gründerzeit.
In der Wohnung herrschte trotz der Sommerhitze ein eigenwilliger Dämmerzustand, der durch die altertümlichen Möbel noch unterstrichen wurde.
Kahlisch fügte sich erstaunlich gut in dieses Ambiente ein, er saß im Sessel und hörte zu, wie Onkel Béla und Erzsis Mutter auf Ungarisch Konversation betrieben. Ab und zu nickten sie zu ihm hinüber, Kahlisch konnte sich denken, dass sie über ihn sprachen.
Als sie wieder einmal mit dem Kopf zu ihm hindeuteten, stand Erzsi unvermittelt auf, rief ihrer Mutter und Onkel Béla ein Auf Wiedersehen zu, erklärte Kahlisch das gemeinsame Nachmittagsprogramm, fasste ihn an der Hand, verließ mit ihm das Haus und zusammen liefen sie zur nahen Elisabethbrücke, die Erzsis vollständigen Namen trug.
Sommerhitze in Budapests Straßen. Erzsi trug ein orangefarbenes, enges Trägerkleid aus Frottee mit einer aufgenähten Tasche am Rocksaum, aus der eine gestickte, dunkelrote Rose bis in das Oberteil des Kleides wuchs, dazu Sandalen, eine Pagenkopffrisur, eine große, weißgerahmte Sonnenbrille. Ihre gebräunte Haut ließ Kahlisch nicht mehr los. Die Sehenswürdigkeiten der Stadt nahm er nur schemenhaft wahr.
Sie waren jetzt schon über zwei Stunden mit Tram, O-Bus und zu Fuß unterwegs. Erzsi sprach Deutsch und erklärte alles wie eine Reiseführerin, die ein gutes Programm zusammengestellt hatte.
Auf den Treppenstufen zur Donau machten sie eine Pause. Kahlisch starrte auf den sanft fließenden Fluss, auf die Liebespaare um sie herum und auf den kurzen Rock an Erzsis Oberschenkel.
Kahlisch hatte keine Scheu, sie so zu fotografieren. Ein Kunstfoto auf den Donautreppen an der Elisabethbrücke. Erzsi blickte in die Kamera und auf Kahlisch.
Er hatte so frei noch nie in seinem Leben fotografiert, noch nie so ruhig ausgelöst und war sich noch nie so sicher über das Endergebnis der Bilder gewesen, die ihm erst viele Wochen später genau dieses Erlebnis zeigten.
Erzsi suchte etwas in ihrer Tasche und Kahlisch setzte sich zu ihr auf die höhere Stufe. Weil er so nah bei Erzsi war und weil so viele Liebespaare um ihn herum waren und weil er Erzsi himmlisch fand, küsste er sie in die Schulter-Hals-Beuge. Erzsi wendete den Kopf und erwiderte seinen Kuss mit einem langen, langen Kuss auf Kahlischs Mund, schaute danach über das Wasser und zeigte in Richtung Buda mit dem Gellértberg und sagte: Morgen gä-hen wir auf Zi-ta-de-ll-a.
Béla Bacsi und Laci standen für die Heimfahrt im Flur der Wohnung bereit. Kahlisch und Erzsi konnten ihnen noch einen Abschiedsgruß zurufen, bevor die Pferdezüchter nach Debrecen zurückfuhren.
Übrigens, zum Tee bei Onkel Béla ist es für Kahlisch deshalb nicht gekommen, weil das große Leben, das vor ihm lag, etwas ganz anderes mit ihm vorhatte.
KAHLISCH WIRD BRAUTFÜHRER
Der Braunkohletagebau war heute, wie in den letzten Tagen, kaum vom gelblich-grauen Himmel zu unterscheiden. Hier und da ragte etwas von der Förderbrücke heraus. Der Abraumbagger war ein rundes Etwas, Himmel und Erde waren für Kahlisch eine übergangslose graue Masse. Er fuhr mit dem Baustellenbus zur Arbeit und blickte zur Seite auf das große Loch, das von Tag zu Tag immer gewaltiger wurde. Dieser Morgen hatte eine eigenartige Tönung für alles, was Kahlisch mit den Augen erfassen konnte.
Zurzeit arbeitete er als Maurer mit den Stuckateuren in einem Gebäude. Die Industriebauten standen im abraumsicheren Gelände und dienten als Sanitäranlagen, Garagen oder Werkstätten. Die Gipser, wie sie auf der Baustelle genannt wurden, in ihren weißen Arbeitsanzügen und den weißen Arbeitsmützen waren eine Sonderklasse auf dem Bau. Für Maurer galt auch weiße Arbeitskleidung, aber Kahlischs Brigade war ein zusammengewürfelter Haufen aus Maurern, Betonleuten und Handlangern, die selten weiße Hosen und Jacken trugen. Eine individuelle Arbeitskleidung herrschte vor. Kahlisch trug eine nicht mehr ganz neue Maurerjacke, hatte einen grünen, altertümlichen Filzhut auf dem Kopf, der ihn unverwechselbar machte, und dazu dunkelgraue Alltagshosen. Die Füße steckten in Gummistiefeln.
Kahlisch lief durch eine Werkhalle, die innen ausgebaut wurde und im Rohbau stand, hatte sein Werkzeug unter den Arm geklemmt und schritt zielstrebig auf seinen Arbeitsplatz zu. Der Innenausbau sollte an diesem Wochenende mit einer Feierlichkeit abgeschlossen werden.
Verwaltungsgebäude, Gaststätte, Kulturraum gehörten ebenso zum Übergabeprotokoll. Die Arbeiter hatten somit ganz nebenbei ordentliche Toiletten, die schon funktionierten. Es gab auch zwei Badewannen als Extra in einem Gebäude, aber die blieben bis zur Übergabe trocken.
Kahlischs Vor- und Zuname wurden plötzlich in der Halle laut ausgerufen und bevor er aufblicken konnte, stand schon der Telegrammbote vor ihm. Der Bote trug einen dunkelgrauen Dienstanzug mit Silberknöpfen, hatte eine Dienst-Schirmmütze auf dem Kopf und nahm aus der Umhängetasche ein Telegramm, überprüfte den Namen und händigte den kleinen, ineinandergesteckten und gefalteten Zettel an Kahlisch aus.
+brautfuehrer fuer hochzeit von h. +samstag+ 13.30 uhr+ +mutti+
Das stand in Handschrift auf dem schmalen Telegrammzettel.
Heute war Donnerstag, noch zwei Tage, dachte Kahlisch. Er musste am Abend zurücktelegrafieren, wenn er aus der Zehn-Tage-Arbeitswoche herauskommen sollte. Er kam heraus, die Brigade ließ ihn Hochzeit feiern und machte die üblichen Witze dazu, denn Kahlisch war seit drei Monaten im hochzeitsfähigen Alter und sollte doch erst einmal probieren, wie sich Heiraten anfühlte …
Ein älterer Handlanger kam sogar in der Frühstückspause ins Schwärmen, als er von der Hochzeit hörte: Wenn man jung ist und die Braut an der Seite führen kann, spürt man seine wahre Größe und bekommt die richtigen Lebensgefühle für das eigentliche Dasein auf Erden. Der Handlanger sprach das in der Bauarbeiterbaracke sehr sinnig aus und erntete von den rauchenden und kauenden Kumpels zotige Antworten. Kahlisch war mehr verunsichert als ermuntert und seine Ohren röteten sich.
Das Zusammentreffen mit Kahlischs Mutter, der Brautjungfer und einem Koffer, in dem sich Kahlischs dunkelblauer Sonntagsanzug, seine Sonntagsschuhe und eine helle Krawatte befanden, gestaltete sich problemlos. Die abseits gelegene Bank gehörte zu einer Parkanlage, die sich in der Stadt befand, in der die Hochzeit stattfinden sollte. Dort wechselte Kahlisch seine Alltagssachen, sodass er sich in einen ansehnlichen Brautführer für seine Brautjungfer verwandelte. Sein sonnengebräuntes Gesicht passte gut zum weißen Oberhemd und der silbergrauen Krawatte. In einem kleinen Spiegel sah Kahlisch auf sich und seine anmutig zurechtgemachte Hochzeitsdame. Kahlisch war etwas größer als sie und probierte mit ihr das Unterhaken und das Halten des kleinen Brautstraußes. Er passte gut zu ihrem bunten Sommerkleid, das sie mit einem Petticoat trug.
Sie waren ein vorzeigbares Paar. Alle Brautjungfern im aufgestellten Brautzug bekamen vor der Kirche eine kleine Schleife für ihre Biedermeiersträuße.
Eben war Kahlisch noch auf der Baustelle gewesen und jetzt stand er mit einer jungen Frau Arm in Arm in ungewohnter Manier im Kreise aller Hochzeitsgäste und wurde begutachtet. Alle kannten sich aus früheren Begegnungen, sodass kein steifer Anstandszwang aufkam. Das Hochzeitszeremoniell wurde besprochen und die Glocken läuteten. Der Brautzug formierte sich. Vorn schritt das Brautpaar. Die Braut war an der linken Seite des Bräutigams und wurde von ihrer Mutter geführt. Danach kam das Defilee der Brautjungfern mit ihren Führern und weil es ein kleiner Brautzug war, nahmen sie hinter dem Brautpaar