3.3 Umgang mit Art. 17 AEUV
Die Entscheidung des EuGH wird in Bezug auf die Argumentation zu Art. 17 AEUV kritisiert. Dabei setzen die kritischen Stimmen unterschiedlich an. Auf einer sehr grundsätzlichen Ebene wird dem EuGH vorgeworfen, er habe mit seiner einschränkenden Auslegung die Grenzen des methodisch Zulässigen überschritten und damit ultra vires entschieden. Maßgeblich für diese Einschätzung sind vor allem die Entstehungsgeschichte der Norm und der Wortlaut, der das Verbot einer „Beeinträchtigung“ des Status von Kirchen und Religionsgemeinschaften enthält.72 Claus Dieter Classen deutet die Norm zwar als negative Kompetenzregel,73 sieht die damit verbundenen Grenzen aber als durch die Entscheidungen in den Verfahren Egenberger und IR als gewahrt an, weil es an der zusätzlich erforderlichen Statusrelevanz fehle.74 Jacob Joussen geht dagegen – gestützt auf andere Stimmen in der Literatur – davon aus, dass Art. 17 AEUV ein Abwägungsgebot begründe, bei dem der Achtung des Status der Kirchen in besonderer Weise Rechnung getragen werden müsse.75
Was aber sagt der EuGH zu Art. 17 AEUV? In der Rechtssache Egenberger finden sich lediglich zwei Randnummern, die in der Tat wenig aussagekräftig sind. Die bloße Behauptung, der zeitliche Ablauf und der ausdrückliche Hinweis in den Erwägungsgründen auf die Vorläuferregelung in der Amsterdamer Kirchenerklärung sprächen dafür, „dass der Unionsgesetzgesetzgeber sie beim Erlass dieser Richtlinie und insbesondere ihres Art. 4 Abs. 2 berücksichtigt haben muss“, ist sicherlich zu wenig. Als primärrechtliche Vorgabe wäre es notwendig gewesen, das Sekundärrecht inhaltlich an der Regelung in Art. 17 AEUV zu messen und nicht seine Beachtung durch den Unionsgesetzgeber zu unterstellen. Der insoweit erhobene Vorwurf einer Verkehrung der erforderlichen Prüfung in ihr Gegenteil ist gut nachvollziehbar.76 In IR begründet der EuGH seine Interpretation von Art. 17 AEUV wie in Egenberger und stellt sich auf den Standpunkt, die Regelung könne nicht bewirken, dass „die Einhaltung der in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 genannten Kriterien einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle entzogen wird.“77 Diese Begründung ist erneut zu kursorisch, das Ergebnis wird aber in der Zusammenschau mit den Schlussanträgen von GA Tanchev in der Rechtssache Egenberger plausibel. GA Tanchev hatte dort argumentiert, dass eine Interpretation von Art. 17 AEUV im übergeordneten Rahmen des gesamten Unionsverfassungsrechts deutlich mache, dass Art. 17 AEUV nicht als „Metaprinzip“ im Sinne einer Bereichsausnahme für das mitgliedstaatliche Religionsrecht verstanden werden dürfe.78 Diese Herangehensweise überzeugt in Umfang und Ausführlichkeit der Argumentation und auch in der Sache. Weder aus der Entstehungsgeschichte noch aus dem Wortlaut lässt sich zwingend auf eine Bereichsausnahme schließen.79 Die Regelung sperrt damit nicht die Auswirkungen von Unionsrecht, das – wie das Antidiskriminierungsrecht – auf einem bestehenden anderen Kompetenztitel (für das Antidiskriminierungsrecht Art. 19 Abs. 1 AEUV) beruht und in den Bereich des Art. 17 AEUV hineinwirkt. GA Tanchev ist deshalb zuzustimmen, wenn er zum Abschluss seiner Analyse formuliert, dass Kollisionen unterschiedlicher primärrechtlicher Vorgaben durch Abwägung gelöst werden müssten, nicht aber durch eine hierarchische Vorrangregel.80 Im Übrigen ist es wenig überzeugend das gesamte kirchliche Arbeitsrecht dem von Art. 17 AEUV geschützten „Status“ von Religionsgemeinschaften nach innerstaatlichem Recht zuzuordnen.81
Zusammenfassend kann man sagen, dass zwar die apodiktische Kürze der Ausführungen des EuGH kritikwürdig ist, nicht aber das Ergebnis der einschränkenden Auslegung von Art. 17 AEUV.
4. Verfassungsrechtliche Konsequenzen: Showdown in Karlsruhe?
Mit der Verfassungsbeschwerde im Verfahren Egenberger ist nun wieder das Bundesverfassungsgericht am Zug und in der Literatur wird – teilweise mit Verve – die Aktivierung der ultra-vires- und der Identitätskontrolle gefordert.82 Dass die vom Grundgesetz gezogenen Grenzen der Integration in die Europäische Union überschritten sein sollen, überzeugt allerdings nicht. Zu diesen Grenzen zählen ein dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbares Schutzniveau bei den Grundrechten, die Einhaltung der Kompetenzgrenzen der EU und die Wahrung der Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten, zu der vor allem auch das Demokratieprinzip gehört.83
Der vom EuGH hier gewährte Grundrechtsschutz ist dem des Grundgesetzes schon deswegen im Wesentlichen vergleichbar, weil beim kirchlichen Arbeitsrecht auf beiden Seiten Grundrechte betroffen sind, die der EuGH auch ausdrücklich benennt und in einen (jedenfalls nicht unvertretbaren) Ausgleich miteinander bringt. Ein Mehr an grundrechtlicher Freiheit der Arbeitnehmer bedeutet automatisch ein Weniger beim Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften. Und umgekehrt bedeutet größere Freiheit der Religionsgemeinschaften bei der Bestimmung der Anforderungen an die Tätigkeiten eben ein Weniger an grundrechtlicher Freiheit der Beschäftigten (etwa bei der Eheschließung oder auch der Religionsfreiheit). Hinzu kommt, dass der EuGH zu Recht die Notwendigkeit des effektiven Rechtsschutzes besonders betont. Dass am Ende die Entscheidung bei den staatlichen Gerichten liegen muss und das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften nicht zu einer Zauberformel für eine letztlich doch weitgehend freie Entscheidung der Religionsgemeinschaften werden darf, sollte außer Frage stehen und wurde auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in vergleichbaren Fällen eingefordert. Dem Vorwurf der „Richtertheologie“84 ist deshalb zu entgegnen, dass umgekehrt eben auch die Gefahr einer „Theologisierung von Arbeitsbeziehungen“ in kirchennahen Einrichtungen besteht, bei der die Beschäftigten Rechtsschutzmöglichkeiten verlieren, die in allen anderen Bereichen als selbstverständlich angesehen werden. Mangelnden Grundrechtsschutz wird man dem EuGH deshalb kaum vorwerfen können.
Daneben wird die ultra vires-Kontrolle als einschlägig angesehen.85 Dass sich über die richtige Auslegung von Art. 17 AEUV trefflich streiten lässt, wurde bereits deutlich gemacht. Den Vorwurf der offensichtlichen Kompetenzüberschreitung86 wird man aber schon deshalb kaum erheben können, weil das vom EuGH zu Lasten der Bereichsausnahme favorisierte Abwägungsmodell in der deutschen Literatur zahlreiche Anhänger findet.87
So bleiben am Ende die ganz schweren Geschütze der Verfassungsidentität und des Demokratieprinzips. Aber kann man ernsthaft behaupten, die hier betroffenen Teilaspekte des kirchlichen Arbeitsrechts seien unantastbarer Kern des Selbstbestimmungsrechts und damit möglicherweise Bestandteil der Identität des Grundgesetzes? Bei der Ausgestaltung der staatlichen Neutralitätspflicht in der Schule sah das Bundesverfassungsgericht in seiner ersten Kopftuch-Entscheidung auch unter dem Grundgesetz durchaus Raum für eine weniger religionsfreundliche Praxis. In der Entscheidung heißt es:
„Es mag […] auch gute Gründe dafür geben, der staatlichen Neutralitätspflicht im schulischen Bereich eine striktere und mehr als bisher distanzierende Bedeutung beizumessen und demgemäß auch durch das äußere Erscheinungsbild einer Lehrkraft vermittelte religiöse Bezüge von den Schülern grundsätzlich fern zu halten, um Konflikte mit Schülern, Eltern oder anderen Lehrkräften von vornherein zu vermeiden.“88
Wenn eine solche striktere Handhabung des Neutralitätsprinzips im Bereich der Schule durch den einfachen Gesetzgeber möglich ist, warum sollte sie dann beim kirchlichen Arbeitsrecht aus Gründen der Verfassungsidentität ausgeschlossen sein? Noch einmal: Was sich geändert hat, ist die Kontrolldichte. Unter dem strengeren