Claudio Caduff
Politisch urteilen ohne Wissen und Verstehen?
Eine Studie zum politischen Wissen und Verstehen von
Sekundarstufe-II-Abgängerinnen und -Abgängern im Kanton Luzern
ISBN Print: 978-3-0355-1667-8
ISBN E-Book: 978-3-0355-1668-5
1. Auflage 2020
Alle Rechte vorbehalten
© 2020 hep verlag ag, Bern
Inhalt
2.2Konzepte der Politik versus Konzepte der politischen Bildung
2.3Weitere politikdidaktische Ansätze
3Zur politischen Bildung in der Schweiz
3.1Bildung auf der Sekundarstufe II
3.2Politische Bildung in den Lehrplänen – zwei Beispiele
4Das Verständnis von politischer Bildung für diese Studie
5.1Fragestellungen und Hypothesen
5.3Stichprobe und Datenerhebung
6.1Die Bedeutung von Verstehen
6.2Politische Bildung in Sammelfächern und als Teil eines anderen Fachs
6.3Kleiner Exkurs zur Interdisziplinarität
8.1Literatur
1Einleitung
Politische Bildung hat in der Schweiz einen schweren Stand, und dies aus zwei Gründen. Erstens gibt es im Gegensatz zu vielen anderen Ländern auf keiner Schulstufe ein eigenes Fach, und zweitens fehlt eine fachdidaktische Tradition. Anders als bei traditionellen Fächern prägen nicht Fachexpertinnen und -experten, also Politologinnen und Politologen, die Diskussion um die politische Bildung, sondern Pädagoginnen und Pädagogen, deren Diskurs weniger auf den Gegenstand Politik gerichtet ist als vielmehr auf pädagogisch-didaktische Fragen. Und das macht politische Bildung umso anfälliger für erziehungswissenschaftliche Modeerscheinungen. Immerhin herrscht unter den eher wenigen Expertinnen und Experten weitgehend Einigkeit darüber, dass politische Bildung in den Schweizer Schulen ein stärkeres Gewicht haben sollte. Denn jüngere internationale Vergleichsstudien brachten deutliche Defizite der Jugendlichen in der Schweiz zutage.
Ausgehend von dieser Situation will die vorliegende Studie untersuchen, über welches Wissen und Verstehen von zentralen politischen Konzepten wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, Grundrechten, Macht- und Herrschaftskontrolle Abgängerinnen und Abgänger der Sekundarstufe II verfügen. Die Studie erhebt weder den Anspruch auf Repräsentativität für die Schweiz – es wurden lediglich Lernende aus dem Kanton Luzern getestet –, noch umfasst die Studie das ganze Feld der politischen Bildung, wobei gerade auch darüber, was denn noch Teil der politischen Bildung sein sollte und was nicht, unter Politikdidaktikerinnen und -didaktikern heftig gestritten wird. Hier wird vielmehr im explorativen Sinne das Wissen und Verstehen erhoben, da, so die Ausgangsthese dieser Arbeit, die politische Bildung in der Schweiz in diesem Bereich ein erhebliches Manko aufweist.
Die Kapitel 2 bis 4 setzen sich mit den bedeutendsten politikdidaktischen Konzepten im deutschsprachigen Raum auseinander, werfen einen vertieften Blick auf die politische Bildung auf der Sekundarstufe II und erläutern das Verständnis von politischer Bildung, das dieser Studie zugrunde liegt. In Kapitel 5 werden die Fragestellung, das Erhebungsinstrument, die Stichprobe und die Datenerhebung sowie die wichtigsten Ergebnisse vorgestellt. Der abschliessende Diskussionsteil (Kapitel 6) kommentiert zunächst die Resultate, erläutert die grosse Bedeutung von Wissen und Verstehen für die politische Bildung und zeigt auf, warum Sammelfächer, fächerübergreifender Unterricht und Interdisziplinarität für die politische Bildung eher hinderlich sind. Ein kurzer Ausblick, der einige Forschungsdesiderate aufzeigt, beendet die Arbeit.
2Theoretischer Hintergrund
Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Darstellung des fachdidaktischen Diskurses zur politischen Bildung im deutschsprachigen Raum in den letzten zehn Jahren. Dieser widerspiegelt das Hauptproblem der Politikdidaktik: die Offenheit des Gegenstands und die Unbestimmtheit aus der Sicht des lernenden Subjekts. Schon Johann Friedrich Herbart hat Anfang des 19. Jahrhunderts festgehalten, dass politische Bildung bestimmt sei durch die anthropologisch determinierte politische Unbestimmtheit (Rucker 2014, S. 27). Die Regeln der politischen Orientierung müssten vom Menschen erlernt werden, denn die Natur gebe ihm keine bestimmten Regeln vor. «Aufgrund seiner Bildsamkeit steht ihm vielmehr ein nicht auslotbarer Horizont an Möglichkeiten bereit, ein politisches Selbst- und Weltverständnis zu entwickeln» (Rucker 2014, S. 27).
Der deutsche Politikwissenschaftler Dolf Sternberger hat vor rund fünfzig Jahren versucht, den Facettenreichtum des Politischen in drei geistesgeschichtliche Positionen zum Politischen zu ordnen (Sternberger 1978; zusammenfassend Meyer 2010, S. 46–56): Im Verständigungsmodell von Aristoteles fällen gleichberechtigte Bürger Entscheide über das Gemeinwesen, das heisst, die Entscheide unter Gleichen müssen sich aus