4. Der Gegensatz von Ichhaftigkeit und Ichlosigkeit – ein Missverständnis
Vorwort
Vom Plan dieses Buches bis zu seiner Verwirklichung ist fast ein Jahrzehnt vergangen – Jahre, in denen verschiedene Lebensumstände und langes Nachdenken über das Thema Entwicklung seine Fertigstellung immer wieder verzögert haben. In dieser Zeit aber bin ich auch älter geworden, habe mich also auch selbst entwickelt – und dabei beobachtet. Das hat – zusammen mit meiner wachsenden Skepsis gegenüber einem Denken in Entwicklungsstufen in der gestalttherapeutischen Praxis – dazu geführt, dass sich in diesem Text nun theoretische Überlegungen mit praktischen Lebenserfahrungen sowie philosophische Einsichten mit Erfahrungen aus der psychotherapeutischen Praxis verbunden haben. Aus der Frage nach der Bedeutung von Entwicklung für das Hier-und-Jetzt des gegenwärtigen Lebens ergab sich dabei zwangsläufig die Frage, was Reifung und Reife heute eigentlich sein könnten.
Zu suchen war dies im Bild vom Menschen, das hinter jeder psychotherapeutischen Intervention verborgen ist und therapeutisches Handeln bewusst oder unbewusst leitet. Solche Bilder sind nicht beliebige Produkte des Denkens der Begründer psychotherapeutischer Schulen und Richtungen, sondern wurzeln im Zeitgeist ihrer Epoche und nähren sich ebenso sehr aus den prägenden historischen Leiderfahrungen ihrer Generation wie aus den philosophischen Denktraditionen ihrer Zeit. Deshalb führten mich die Fragen nach Wachstum, Entwicklung und Reifung zurück zu der uralten und immer neu zu stellenden philosophischen Frage nach dem guten Leben. Was könnte das heute bedeuten, ein gelingendes, ein sättigendes, ein glückliches, und in einem tieferen Sinne gutes Leben zu führen? Und ergibt sich aus der Antwort darauf auch so etwas wie eine Richtung, die einem Leben Orientierung und Sinn verleihen könnte?
■ Für mich war es natürlich, mich bei der Suche nach Antworten zuerst in der Gestalttherapie umzuschauen, denn deren Geist hat mich nun schon seit vierzig Jahren in meiner therapeutischen Arbeit beflügelt und inspiriert. Vieles in diesem Buch beruht auf dem, was ich für das Menschenbild der Gestalttherapie halte – denn ein solches findet sich nirgends explizit ausformuliert, auch wenn ich die klassischen Schriften der Gestalttherapie immer wieder zu Rate ziehe. Ansonsten aber stütze und berufe ich mich in diesem Buch ständig auf meine Erfahrungen aus meiner eigenen Arbeit mit Klienten und auf die theoretische Beschäftigung mit der Gestalttherapie in meinen eigenen Veröffentlichungen. Das gilt vor allem für den Band Reflexive Sinnlichkeit I. (Emotionales Gewahrsein) und Reflexive Sinnlichkeit II. (Gestalt und Prozess). Diese drei Bände hatten ursprünglich zur Aufgabe, vier Lücken in der allgemeinen Theorie der Gestalttherapie zu schließen:
1. Die Ausarbeitung des zuvor nur skizzierten Modells der »Kontaktwelle«.
2. Die Ausarbeitung einer Phänomenologie der Gefühle, mit der diese so auf die Arbeit an den Gefühlen fokussierte Therapie gut arbeiten kann.
3. Die Ausarbeitung einer prozessorientierten, Gestaltpraxis nahen Diagnostik der Neurosen.
4. Die Ausarbeitung einer gestalttherapeutischen Entwicklungstheorie.
Diese Vorhaben habe ich mit diesem Buch beendet, wenn auch nicht abgeschlossen. Die Richtung, in die sich meine Arbeiten zu diesen Themen entwickelt haben, hat sich im Laufe der vielen Jahre seit der ersten Auflage des ersten Bandes (1992) verändert – und das gilt insbesondere für dieses vorliegende Buch. Zweierlei ist aber gleich geblieben, und das rechtfertigt den gemeinsamen Obertitel: die Einbettung der Themen in den gesellschaftlichen und historischen Kontext und der Gedanke, dass das Gewahrsein, das ich reflexive Sinnlichkeit oder Bewusstheit nenne, und die Achtsamkeitspraxis, die zu ihr führt, für unser Leben als Einzelne und als Mitmenschen in unserer gesellschaftlichen Umgebung eine heilende und entwicklungsfördernde Bedeutung hat.
Wenn es aber hier nun um die Frage nach dem guten Leben geht, nach der Kunst, das Leben so zu gestalten, dass es als ein sinnvolles erlebt werden und damit glücklich machen kann, dann bekommt dieser zentrale Gedanke meiner Überlegungen notwendigerweise eine ethische Dimension, die so in der Gestalttherapie als Praxis nicht enthalten ist – zu groß erschien den Gründern Frederik und Laura Perls und Paul Goodman die Gefahr, dass Wegweisungen als moralische Fremdkörper introjiziert werden könnten.
■ Dieses Buch aber enthält solche Wegweisungen – und ist deshalb kein gestalttherapeutisches Praxis-Buch! Dennoch wäre mir nichts unangenehmer, als wenn man es bei der verbreiteten Glücks- und Ratgeber-Literatur einordnen würde. Ich denke aber, dass es sich komplex genug darbietet, um nicht allzu leicht introjizierbar zu sein. Es will zum Nachdenken, Nachspüren, Ausprobieren und Üben anregen. Wäre es nur um praktische Tipps gegangen, wie man sein Leben lustvoller und reicher gestalten könnte, dann hätte ich mich zumindest ausführlich mit Erotik, Kulinarik und last not least mit dem Reisen befassen müssen, alles Bereiche, die der Kultivierung bedürfen und über die es eine reichhaltige Literatur kritisch zu besichtigen gilt. Hier geht es mir um die Umgestaltung des Lebens als ganzem durch die tiefgreifende Bewusstseinsveränderung, die unsere Epoche verlangt. Das geht nicht ohne Zumutung einiger Imperative.
Thomas Rieger, der die Idee zum Nachwort zu diesem Text hatte, meinte mit kritischer Freundlichkeit, es sei unter den apodiktischen Büchern das einzige, das er akzeptieren könne. Vielleicht liegt das daran, dass ich die Wirkung meiner Wegweisungen von der Übungspraxis der Leser abhängig mache; erst aus der Selbsterfahrung ihres Übens könnte sich der Sinn meiner Schlussfolgerungen auf je individuelle Weise erschließen. Diese im Druck eigens abgesetzten Schlussfolgerungen sind das Ergebnis meiner jeweils vorangestellten Überlegungen, aus denen sie sich begründen. Diese Übungspraxis wäre aber zugleich auch das Falsifikationsverfahren, dem ich mich nicht entziehen will. Auch meine ich, dass es nicht nur therapeutisches Lernen gibt, das in der Tat auf nichts als angeleiteter Selbsterfahrung beruhen sollte, sondern auch ein Lernen über das geschriebene und gesprochene Wort; das mag altmodisch sein, hat aber den Vorzug, dem Leser und Hörer die Integration oder das Verwerfen des Aufgenommenen zu überlassen.
Die im Text zitierten und im Literaturverzeichnis aufgeführten Texte wollen den Leser weder beeindrucken noch ermüden; sie sind nur als Hinweise für diejenigen Leser gedacht, die dieser oder jener Spur ihrer eigenen Neugier folgend weiter nachgehen möchten. Auch sind sie nicht vollständig genug, um als wissenschaftlicher Beleg für meine Thesen dienen zu können. Stattdessen sollen sie dem Leser zeigen, was die Quellen meines Denkens sind. Der Leser möge sie als einen Teller voller Lesefrüchte sehen, die ich auf dem Weg zu diesem Buch fand, und die mich angeregt und genährt haben – und koste sie nach eigener Lust und Neugier.
Dieses Buch wendet sich an Leser, die den ökonomisch relativ gesicherten Verhältnissen der sogenannten Westlichen Gesellschaften angehören. Denn was ein gutes Leben ist, kann nicht kontextfrei für alle Menschen die gleiche Gültigkeit haben; es ist abhängig vom ökonomischen Entwicklungsstadium der Gesellschaft, in der man lebt, sowie von der eigenen Klassenlage und dem eigenen kulturellen Milieu. Mit dieser Heterogenität müssen wir vorerst leben, denn die Weltgesellschaft ist erst im Entstehen. »Ich bin. Aber ich habe mich nicht: Darum werden wir erst«, wie Ernst Bloch hoffnungsvoll diesen Zustand auf anthropologischer Ebene beschrieb (E. Bloch, 1963, 11).
■ Wenn man heute jenseits der Biologie von Entwicklung spricht und damit anspielt auf zivilisatorische Prozesse der Differenzierung im Rahmen übergreifender, ganzheitlicher Systeme, steht man sogleich unter Verdacht, naiv zu verkennen, wie sehr sich in der Dialektik der Aufklärung (T. W. Adorno & M. Horkheimer, 1963) jedes positive Verständnis von Aufklärung selbst verbrannt hat. Zu schwer lastet die Erfahrung der Ungeheuerlichkeiten des XX. Jahrhundert auf uns, als dass wir noch ungebrochen unsere Hoffnungen