Bernd Bocian und Frank-M. Staemmler
Martin Altmeyer
Die Wiederentdeckung der Beziehung – Ein Paradigmenwechsel im psychoanalytischen Gegenwartsdiskurs
Die Psychoanalyse hat das Graben in der Tiefe übertrieben. Im Fluss des Lebens fließt alles mehr oder weniger weit oben. Die allertiefste Tiefe ist eine Illusion. (Sudhir Kakar, Indischer Psychoanalytiker)
1. Die intersubjektive Wende: Modernisierung der Psychoanalyse
Obwohl es sich im Kern um die Entfaltung eines ureigenen Potenzials der Psychoanalyse handelt – um eine Wiederentdeckung der Beziehung nämlich –, kann man bei dieser Tendenz, die seit den 1980er-Jahren zu erkennen ist, von einem Paradigmenwechsel sprechen. Etwas verkürzt können wir es so ausdrücken: Was seit der Aufgabe der Verführungstheorie zum »äußeren Faktor« erklärt worden, als »durchschnittlich zu erwartende Umwelt« (H. Hartmann) neutralisiert geblieben oder in esoterischen Tiefenspekulationen über eine aparte Innenwelt ganz aus dem psychoanalytischen Blick verschwunden war, kehrt in die Theorie und klinische Praxis der Psychoanalyse zurück: die für die Psyche konstitutive Bedeutung von sozialen Beziehungen und einer widerständigen Außenwelt.
Mit dieser Rückkehr wird nicht nur der entscheidenden Wirkung von Interaktion und Handeln auf die Strukturbildungen der Psyche Rechnung getragen, sondern auch das Denken-in-Beziehungen von Innen, Außen und Zwischen psychoanalytisch erneuert. Diese Erkenntnis nötigt dazu, unser dynamisches Verständnis des psychischen Geschehens aus den Beschränkungen eines epistemisch überholten Organismus-Modells heraus zu lösen, das uns immer noch glauben lässt, die Seele sei eigentlich im Körper zu Hause und suche bloß notgedrungen Kontakt zur physischen und sozialen Umwelt. Stattdessen wird die Psyche heute eher als Organ der Vermittlung von innen und außen verstanden, das dementsprechend strukturiert ist. Die Psyche ist ihrer Natur nach relational; es gehört zu ihren Hauptfunktionen, zwischen Innen und Außen, Selbst und Objekt, Ich und Realität zu vermitteln. Der Mensch ist keine Monade. Das werdende Subjekt bedarf nicht nur einer »haltenden«, sondern auch einer resonanten und responsiven Umgebung, wenn es so etwas wie Identität ausbilden will: der Spiegelung im Anderen, der Anerkennung durch signifikante Bezugspersonen, einer »freundlichen« Realität. Im lächelnden Gesicht der Mutter erhält der Säugling eine erste Ahnung davon, wer er ist: Wenn ich gesehen werde, bin ich. Auf die identitätsstiftende Wirkung intersubjektiver Spiegelung hat schon Donald Winnicott (1971) verwiesen, den man innerhalb der Psychoanalyse zusammen mit Michael Balint (1969) und Hans Loewald (1986) zu Recht als Pionier ihrer intersubjektiven Wende würdigt.
Wer die Theoriegeschichte der Psychoanalyse rückwärts liest, wird ihren relationalen Charakter bereits in Freuds Formulierung entdecken, das Ich verdanke sich dem Niederschlag vergangener Objektbeziehungen und könne als eine Art Sediment seiner eigenen Interaktionsgeschichte begriffen werden (Freud 1923/1940). Auch das lebenslange Bedürfnis geliebt zu werden, das Freud zum Kern des Narzissmus erklärt (Freud 1914/1963) und entwicklungspsychologisch aus der neonatalen Abhängigkeit des Säuglings ableitet (Freud 1926/1948), steht quer zu seiner Triebpsychologie, die den Narzissmus bekanntlich als libidinöse Besetzung des Selbst definiert und zur objektlosen Selbstliebe erklärt hatte (vgl. Altmeyer 2004).
Allerdings handelt es sich bei solchen Fundstücken um eine metapsychologische Seitenlinie im Werk des Begründers der Psychoanalyse, den man deshalb nicht zum Urvater ihrer intersubjektiven Wende erklären sollte. Denn ungeachtet der Einsprüche, z. B. von Sandor Ferenczi (1932/1984), blieb Freud in der von Descartes gebahnten Spur eines Innen-Außen-Dualismus befangen, der ein vermittelndes Drittes und damit ein Zwischen (= Inter) nicht kennt. Die metapsychologische Trennung von Subjekt und Objekt spiegelte sich auch im antagonistischen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, Trieb und Kultur, Fantasie und Realität – Gegensätze, die Freud weitgehend unvermittelt ließ. So übertrug sich die monadologische Perspektive der Triebtheorie in die Strukturtheorie, in die Entwicklungspsychologie und in die klinische Theorie und konnte sich selbst auf die psychoanalytische Sozialpsychologie ausdehnen, wo die intrapsychischen Begriffe im gesellschafts- und kulturkritischen Anwendungsdiskurs sozialpsychologisch überdehnt wurden.
Prominente Vertreter der Psychoanalyse, die deren latente Intersubjektivität zu entfalten versuchten (wie John Bowlby, Harry Stack Sullivan, W. R. D. Fair-bairn, Sandor Rado oder Erich Fromm), wurden als »Dissidenten« ausgegrenzt oder verließen freiwillig die psychoanalytische Vereinigung, um eigene Schulen aufzubauen. Dazu gehörten nicht zuletzt auch Carl Rogers und Fritz Perls mit ihren Bemühungen, vom trieb- und Ich-psychologischen Mainstream ihrer Zeit abweichende psychotherapeutische Methoden zu entwickeln.
Inzwischen hat die intersubjektive Wende sämtliche Schulen des psychoanalytischen Pluralismus ergriffen, wenn auch in unterschiedlicher Reichweite und Tiefe. Heute rechnen sich die meisten Strömungen, von den (Post-) Kleinianern und Bionianern bis hin zur Selbstpsychologie, von den Adler-Schülern bis zu denen von C. G. Jung einer – in einem übergreifenden Sinne des Begriffs – relationalen Psychoanalyse zu (als »Relationale Psychoanalyse« im engeren Sinne bezeichnet sich eine eigene, von Stephen Mitchell und Jessica Benjamin begründete Schule). Die Amöbensage ist verabschiedet, und man stützt sich übereinstimmend auf eine intersubjektive Entwicklungstheorie. Ein dialogisch-interaktives Verständnis der analytischen Situation wird miteinander geteilt. Eine Philosophie der Beteiligung, der Aktivität, des Engagements hat die klassische Vorstellung von der Neutralität des Analytikers ersetzt, der einmal als objektiver Beobachter, weiße Wand oder glatter Spiegel fungieren sollte.
Die Unterschiede der verschiedenen Strömungen betreffen auf klinischer Ebene eher praktische Fragen, etwa die Art der Rollenverteilung zwischen Analytiker und Analysand, die spezifische Qualität der therapeutischen Beziehung, die Balance von Selbstoffenbarung und Zurückhaltung (vgl. Mitchell 2003). Solche Fragen aber hängen von der Schaffung einer therapeutischen Atmosphäre ab; sie sind eng an die Person des Analytikers oder der Analytikerin gebunden, insbesondere an deren Beziehungs- und Kommunikationsfähigkeit, und deshalb auch nicht allgemein zu beantworten.
2. Innen, Außen, Zwischen: Das ›Inter‹ als neue Kategorie der Metapsychologie
Das Individuum entwickelt sein Seelenleben nicht wie der Apfel aus dem Kern und wird ebenso wenig durch ein genetisches Programm wie durch Triebschicksale determiniert. Das naturalistische Entwicklungsmodell, demzufolge der Einzelne seine im biologischen Substrat enthaltenen psychischen Dispositionen lediglich entfaltet, verfehlt ebenso wie das kulturalistische Modell sozialer Prägung den eigentümlichen Charakter der conditio humana: Die Menschwerdung verdankt sich in hohem Maße einem ständigen Austausch zwischen dem Individuum und einer soziokulturellen Umwelt, die nicht zuletzt aus anderen Subjekten besteht. Jedes menschliche Wesen wird soziobiologisch wie mental in Gattungsbeziehungen hineingeboren und entwickelt sein Selbst im Rahmen dieser Beziehungen: durch narzisstisch, libidinös oder aggressiv gefärbte Bindungen, durch Akte der Identifizierung und Abgrenzung, durch soziales Feedback und andere reflexive Mechanismen, durch Anpassungszwänge und Widerstandsleistungen hindurch.
Ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis im Sinne einer schlichten Kausalität existiert im Seelischen nicht. Die menschliche Psyche wird nicht hergestellt. Der einzelne Mensch ist nicht das Produkt seiner Natur, aber auch nicht das Produkt von Umständen. Er ist überhaupt kein Produkt – weder das genetisch programmierte Ergebnis bestimmter Sequenzen auf der Doppelhelix noch das Ergebnis in der Tiefe des Unbewussten wirkender Triebkräfte. Andererseits entstehen individuelle seelische Strukturen, die als Ensemble auf der mentalen Hinterbühne wirken und die Persönlichkeit ausmachen, auch nicht aus eigener Schöpfungskraft: Das Subjekt generiert sich nicht selbst und schon gar nicht aus freien Stücken (wie etwa in der romantischen Idee vom Selbstentwurf gedacht). Paradoxerweise individuiert sich der Einzelne gerade dadurch, dass er sich seine lebensgeschichtlich kontingenten Erfahrungen mit sich selbst und anderen intrapsychisch aneignet.
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