Gleichzeitig sind wir auch Geschöpfe, die das Allein-Sein zu unserer persönlichen Vollendung brauchen. Um uns zur wirklichen Krone der Evolution zu entwickeln, ist jener Prozess notwendig, den C. G. Jung Individuation nannte. Individuation ist, wie schon das Wort ausdrückt, individuell und auf je eigene Art und Weise anzugehen. Befreite, Verwirklichte oder Erlöste sind diesen Weg auch im Wortsinn allein gegangen. Ashrams und Klöster überall auf der Welt stehen dafür. Auch der historische Gautama Buddha musste sich erst mit Entschlossenheit und Mut gegen die beharrenden Kräfte seitens seiner königlichen Familie behaupten, um sich zu lösen und seinen ureigenen Weg der Individuation zu finden.
Wir kommen aus der Gemeinschaft unserer eigenen Ursprungs- wie auch der gemeinsamen Menschen-Familie und sind beides: Gruppenwesen, aber auch Einzelkämpfer auf dem Weg der Selbstverwirklichung. Die Gemeinschaft lockt mit Gemütlichkeit und Wohlgefühl, die Individuation mit dem Heil. Ob wir auch allein glücklich sein können, hängt davon ab, was wir unter Glück verstehen. Die Mehrheit setzt Gemeinschaftsleben mit Glück gleich und findet es in der Regel im kleinen Glück des alltäglichen Wohlbefindens. Für den Weg zum großen Glück der endgültigen, umfassenden Befreiung brauchen wir aber auch zumindest Phasen des Allein-Seins.
Während die Welt schon längst auf dem Weg in die Ablenkungs-Falle war, sangen DichterInnen wie Rainer-Maria Rilke, Anaïs Nin und Ernest Hemingway noch das Hohelied des Allein-Seins. Und nicht nur sie. Santiago Ramon y Cajal, der Begründer der Neurowissenschaften, schwärmte: »Oh, beruhigendes Alleinsein, wie günstig bist du für das ursprüngliche Denken!« Sie alle wussten: Jeder kreative Schöpfungsakt braucht Zeit für sich allein. Phasen absichtlichen, bewussten Allein-Seins sind erforderlich, um kreatives Potential authentisch und mit Schaffensfreude auszuschöpfen. Nur wer ganz bei sich selbst ist, kann seine Mitte finden und ins Zwiegespräch mit seiner Seele eintreten. Um uns selbst nahezukommen, um uns wirklich kennenzulernen, brauchen wir Zeit für uns ganz allein. Ständige äußere Geschäftigkeit aber ist der Gegenpol zu Selbstfindung.
Es beginnt bei scheinbar banalen Dingen des Alltags, die aber überhaupt nicht banal sind. Geschäftsessen etwa lassen die Hauptsache zur Nebensache werden. Es geht dann eben nicht in erster Linie ums Essen, sondern ums Geschäft. Kein Wunder, dass sie auch noch zum Überessen verführen. Bewusstes Fasten dagegen bringt dich zu dir selbst tut dir gut. Fasten kann man auf vielen Ebenen und damit nicht nur der Falle der Ablenkung, sondern auch der Falle des Übermaßes entgehen. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, wie der Volksmund weiß. Nur wer schweigt, auch in Gedanken, vermag seine innere Stimme zu hören. Immer nur auf andere zu hören, auf sie wirken, Eindruck machen zu wollen bringt uns von uns selbst weg, vertreibt uns aus unserer Mitte. Auf die innere Stimme zu horchen, ihr gehorchen zu lernen bringt uns dem eigenen Selbst näher. Still-Sein, im Idealfall noch den inneren Dialog zum Schweigen zu bringen: Das ist es, was uns zu unserem Selbst führt. Solange wir uns ständig äußeren Reizen aussetzen, bleibt Selbstfindung bestenfalls ein schöner Traum.
Wie wir sprechen, so denken wir auch
Wenn die Menschen nur über das sprächen, was sie begreifen, dann würde es sehr still auf der Welt sein.
ALBERT EINSTEIN
Auch unter Menschen kann man einsam sein, zutiefst einsam sogar, und sich von Gott und der Welt verlassen fühlen. Wer sich niemandem zugehörig fühlt und glaubt, nicht dazuzugehören, dem nutzt die Gemeinschaft der Dazu-Gehörigen absolut nichts. Im Gegenteil. Wer anders als die anderen empfindet, fühlt sich isoliert. Und wer sich isoliert fühlt, leidet darunter. Damit ist eine innere Abwärtsspirale in Gang gesetzt, denn Einsamkeit wird ungern eingestanden. In einer Gesellschaft, die der Geselligkeit einen so hohen Stellenwert einräumt, ist Einsamkeit schambesetzt. Allein-Stehende werden immer sagen: »Ich lebe allein«, aber sicher niemals: »Ich lebe einsam.«Wer glaubt, das sei immer so gewesen, irrt gewaltig. Meister Eckhart oder Hildegard von Bingen hätten sich gewiss nichts daraus gemacht, so zu formulieren: »Ich habe bewusst die Einsamkeit gewählt.« Solange bewusst gewähltem Allein-Sein ein hoher, spirituell gesehen sogar der höchste Wert beigemessen wurde, schämte sich niemand dafür.
Vorurteilslos betrachtet, gab und gibt es auch keinen Grund dafür. Auch ein heutiger Kartäusermönch kann schon seit Jahr(zehnt) en in seiner Kartause mit sich völlig allein sein, ohne sich einsam fühlen zu müssen, denn ihm wird nicht eingeredet, Allein-Sein habe zwangsläufig negative Empfindungen und ein scheußliches Selbstbild zur Folge. Möglicherweise ist er dank seines Allein-Seins schon in den wundervollen Zustand des Alles-in-Einem-Seins eingetreten und geht, Gott in sich wissend, im Glücksgefühl der Allverbundenheit auf.
Es ist ein großer Kulturverlust, dass Allein-Sein heute generell als unerwünscht betrachtet wird. Ohne die Erwartung, mit fortschreitendem Lebensalter nicht mehr integriert, sondern ausgeschlossen zu sein, gefühlt »nicht mehr dazuzugehören«, wäre die Angst vor Einsamkeit im Alter sicher nicht so verbreitet. Offenbar liefert auch die sogenannte Seelsorge da weder befriedigende Antworten noch gangbare Auswege.
Der Ausdruck »mutterseelenallein« ist sehr aufschlussreich: Da fehlt offenbar die Mutter-Seele, und damit etwas ganz Tiefes und Wichtiges. Andererseits ist es gerade die Mutter-Seele, die spricht: »Ich würde so gern einmal für mich allein sein.« Das geht bei dem zunehmenden Stress allüberall immer mehr Menschen so. Wer also sagt, er habe Angst davor, allein zu sein, meint damit eigentlich Angst vor Einsamkeit. Und wer sich einsam fühlt und sagt: »Ich fühle mich allein«, meint: »Ich fühle mich einsam.« Einsamkeit ist eben ein Gefühl, Allein-Sein dagegen ein Zustand, der an sich nicht fühlbar ist, wohl aber sein Resultat: eben glücklich zu sein mit sich selbst.
Es gibt deshalb keinen Grund zu einem fröstelnden Gefühl, wenn in diesem Buch von der »Leere« als erlöstem Gegenpol von »innerer Leere« gesprochen wird. Vielleicht sollten wir uns auf der Reise in unsere Innenwelt daran gewöhnen, dass es dort nicht um »Etwas« und »Dieses« oder »Jenes« geht. Bewusstheit benötigt keinen Gegenstand, kein Gegenüber, denn Bewusstsein ist überall, wir sind uns dessen nur nicht bewusst.
Auch Einsamkeit und Allein-Sein sind Gegenpole. Erstere steht für Abhängigkeit und Mangel, Letzteres für innere Erfüllung. Bewusstes Allein-Sein zu erlernen ist das beste Mittel gegen Einsamkeit und sogar, wie wir sehen werden, eine Voraussetzung für gelingende Partnerschaft.
Alles Wesentliche beginnt bei uns selbst – auch die Liebe
Als ich mich wirklich selbst zu lieben begann, habe ich mich von allem befreit, was nicht gesund für mich war, von Speisen, Menschen, Dingen, Situationen und von allem, das mich immer wieder hinunterzog, weg von mir selbst. Anfangs nannte ich das »gesunden Egoismus«, aber heute weiß ich, das ist »Selbstliebe«.
CHARLIE CHAPLIN
In aller Regel begannen wir unser Leben allein im Mutterleib, hatten die meisten doch keinen Zwilling zur Seite. Von allen Seiten von unserer Mutter umgeben und in ihr geborgen, mussten wir dann allein den Kopfsprung ins Leben wagen, und das gilt selbst für Zwillinge. Auch am Ende des Lebens sind wir letztendlich allein, wenn uns Gevatter Tod abholt. Und zwischen unserem ersten Atemzug nach der Geburt und dem letzten vor dem Tod liegen eine Menge Situationen, wo wir ganz allein und nur auf uns selbst gestellt sind. Die Frage ist, ob und wie wir uns dem stellen.
Bei entscheidenden Momenten wie etwa Lebensübergängen sind wir letztlich und wesentlich ebenfalls allein. Die Peergroup mag Pubertierende hilfreich unterstützen, aber am Ende ist Erwachsen-Werden ein nur allein zu schaffender Schritt. Das gilt ebenso für die Um- und Einkehr in der Lebensmitte und die Akzeptanz des Geschenks des Alter(n)s.
Alles Wesentliche beginnt immer also bei uns selbst. »Nur du allein kannst es schaffen. Aber du kannst es nicht allein schaffen«, lehrte mich der große Nervenarzt Walther Lechler. Ein Kernsatz, der sich aus seiner Arbeit mit Suchtpatienten