Davon waren meine Eltern überzeugt, und sie überzeugten meine Großeltern. Obwohl überzeugen vielleicht etwas zu hoch gegriffen ist, eher war es ein Überreden. Jedenfalls stimmten sie der großen Reise zu. Meine Oma gab mir einen letzten Kuss, bevor mich mein Vater zum Bus trug. Meine Eltern verstauten unser Gepäck, setzten sich und hielten mich so, dass Bebo mich durchs Fenster gut sehen konnte. Die Tränen flossen jetzt ungehindert, mit dem Abwischen kam sie nicht mehr hinterher. Sie winkte mit ihrem Taschentuch wie mit einer weißen Fahne, während der Bus anfuhr. Es war Abend, die Sonne ging langsam unter. Wir brachen auf in die Nacht, voller Hoffnung auf ein besseres Leben. Wir brachen auf nach Westen.
UNGARN
Unser Ziel war Ungarn. Kiskunhalas, eine kleine Stadt 130 Kilometer südlich von Budapest. Als wir ankamen, fühlte es sich friedlich an, wie auf einem anderen Stern. Das erzählten mir zumindest meine Eltern, mein Gedächtnis war noch zu jung für Erinnerungen. Meine ersten Eindrücke sind vage, eine auffallende Stille, gefüllt mit dem Geruch von Paprika. Später begeisterten mich die Konditoreien mit ihren Süßigkeiten, das fließende und saubere Wasser aus den Hähnen und der Strom aus der Steckdose.
Die Sprache lernte ich ohne Probleme, einerseits war ich klein genug, um sie fast wie eine Muttersprache anzunehmen, andererseits hatten wir schnell Anschluss und daher mehr Möglichkeit zur Kommunikation. Wir hatten das Glück, ein paar Menschen zu begegnen, die uns, vor allem meinen Eltern, das Gefühl von Daheimsein gaben. Insbesondere unsere Nachbarn, deren Kinder Lilly und Tom zu meinen besten Freunden wurden. Ich konnte rasch aktzentfrei Ungarisch und übersetzte für meine Eltern. Obwohl Ungarisch eine komplizierte Sprache ist, dauerte es nicht lange, bis sie sich selbst zurechtfanden. Das Talent dafür dürfte in der Familie liegen, mit Deutsch, auch keiner ganz einfachen Sprache, sollte es später ähnlich flink gehen. Als mein Bruder George auf die Welt kam, war ich längst an meine neue Umgebung gewöhnt.
Nini Tsiklauri, ein Mädchen in Ungarn.
Mit vier Jahren schickte mich meine Kindergärtnerin mit meiner Mutter zu einem IQ-Test in die nächstgrößere Stadt. Danach beschloss man, mich umgehend in die Schule zu schicken. Die Pädagoginnen waren der Meinung, mich fördern zu müssen und setzten mich dann gleich mal in die zweite Klasse. Im Hinblick auf die Bildung, die meine Eltern für uns im Sinn hatten, war das eine tolle Neuigkeit. Für mich in der Praxis war es weniger toll.
Im Gegensatz zu den anderen war ich winzig, hatte lange dunkle Haare und eine dunklere Haut, kurz gesagt: Ich sah anders aus als meine Mitschüler. Ich war also nicht nur zwei Jahre jünger, sondern auch sonst nicht das, was mich als Spielkamerad ausgewiesen hätte. So schnell wir uns im Land eingewöhnt hatten, so unmöglich gelang das in der Schule. Meine Mitschüler gaben mir meistens das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Einige erklärten mir, warum. Sie als »helle« Menschen mit blaueren Augen und blonderen Haaren wären die besseren Ungarn als die »dunkleren« wie ich. Das war die lange Erklärung. Die kurze hörte ich in den Pausen, wenn sie mich »Zigeunerin« riefen.
Ich konnte mit dem Begriff damals nichts anfangen, also fragte ich meine Eltern, was damit gemeint war. Sie wussten gar nicht, wie sie es mir beibringen sollten. Ihnen brach das Herz, dass ich immer öfter mit ähnlichen Fragen nach Hause kam. Und dann merkten wir es auch in der Umgebung. Es waren nicht bloß die Kinder, auch die Erwachsenen machten einen Unterschied zwischen den hier Geborenen und uns Zugezogenen, noch dazu aus einem Land jenseits des Schwarzen Meeres. Im Allgemeinen begegnete man uns nicht so freundlich wie unsere Nachbarn.
Meine Eltern nahmen mich aus der Schule und suchten eine neue für mich. Die Schüler waren andere, die Einstellung blieb dieselbe. Ich wechselte die Schulen dreimal hintereinander, es machte keinen Unterschied. Die Situation verbesserte sich nicht, nicht einmal an einer modernen englischen Schule in Budapest.
Wir lebten in einem Kontrastreich. Hier die großartigen Freundschaften, die unsere Familie in Ungarn schloss, für die wir sehr dankbar sind, und die bis heute bestehen. Dort der Hass gegenüber uns als Fremde, den man uns deutlich zu spüren gab, und der zum Alltag gehörte. Egal, wie sehr man sich zu integrieren bemühte, wir blieben die Ausländer. Egal, wie akzentfrei und fließend man die Sprache sprach, es war nie dieselbe. Wir waren Fremdkörper in der ungarischen Gesellschaft.
Nach sieben Jahren beschlossen meine Eltern, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Wir packten unser Leben zusammen und kehrten in die alte Heimat zurück. Das heißt, Heimat war es nur für unsere Eltern. Ich war als Baby hier angekommen, mein Bruder überhaupt erst hier geboren. Unsere Erinnerung an das Land, das wir 1993 mit dem Bus verlassen hatten, waren nicht spärlich, es gab sie schlichtweg nicht. Für meine Eltern war es eine Reise in die Vergangenheit. Für mich und meinen Bruder war es eine Reise ins Unbekannte. Ich war sieben Jahre alt.
GEORGIEN
Unser blauer Van ist voll bepackt. Seit Stunden stehen wir im Stau vor den Grenzkontrollen nach Georgien. Meine Eltern sind müde, die Fahrt bis hierher war lang. Ich möchte mir die Beine vertreten, die ich schon fast nicht mehr spüre. Mein kleiner Bruder ist als Einziger hellwach und fragt ständig, wann wir endlich da sind. Er fragt es auf Ungarisch.
Seit er reden kann, haben George und ich untereinander nur Ungarisch gesprochen. Ab nun sollte es nur noch eine Geheimsprache zwischen uns sein, aber das wussten wir noch nicht. Wir waren nicht einmal noch in dem Land angekommen, aus dem wir eigentlich stammen. Dank meiner Mutter haben wir Georgisch nicht ganz vergessen, auch wenn wir die Aussprache und später auch die Schrift ganz neu lernen müssen.
Nur noch ein paar Autos vor uns. Der Van fährt über die Rampe. Wir sind auf georgischem Boden. Mein Vater lässt die Fenster herunter, ein Grenzbeamter schaut ins Auto und redet mit seinem Kollegen. Sie reden Georgisch.
Mein Bruder ist ganz aus dem Häuschen und brüllt laut auf Ungarisch: »Mama, Mama, hör doch, hier reden ja alle auf Georgisch!«
Großes Gelächter im Wagen. Der Beamte ist irritiert. Mein Vater übersetzt es für ihn, er schenkt uns ein breites Schmunzeln und schüttelt den Kopf über diese georgische Familie, die aus Ungarn heimgefunden hat.
Der Weg zu meinen Großeltern ist ein Klacks gegen die weite Strecke, die wir gerade hinter uns haben. Wir steigen aus. Nach sieben Jahren haben meine Eltern wieder georgischen Boden unter den Füßen, mein Bruder und ich zum ersten Mal. Fühlt sich auch nicht anders an als der in Ungarn, denke ich. Vielleicht mein erster europäischer Gedanke. Bewusst ist mir das natürlich noch nicht.
Unter dem achtzig Jahre alten Lindenbaum im Garten meiner Oma in Patara Etseri sitzen wir wie in einer anderen Welt. Die Hälfte unserer Familie wohnt hier, auch sie kenne ich bloß aus Erzählungen. Die waren allerdings so lebendig, dass ich mich sofort mit meiner Verwandtschaft vertraut fühle, darauf hat Mama geachtet. Sie empfangen uns, als kämen wir vom Mars zurück. Alles begossen von reichlich Tränen, nur diesmal sind es Tränen der Freude.
Wir waren in ein Land zurückgekehrt, das wir im Bürgerkrieg verlassen hatten. Abchasien war nun eine autonome Republik, Südossetien de facto unabhängig von Georgien, beide werden unterstützt vom großen Nachbarn Russland. Geändert hatte sich ansonsten wenig. Der Scherbenhaufen war immer noch da, nur moderte er mittlerweile vor sich hin wie ein riesiger postsowjetischer Sumpf, durchzogen von zerstörten Straßen und Träumen. Die Wasserversorgung lag im Argen, mit Strom sah es nicht besser aus, gar nicht zu reden von einem Rechtsstaat. Das war zumindest das, was meine Eltern sahen. Wir Kinder waren damit beschäftigt, uns in einem Land einzugewöhnen, das sich noch wenig heimatlich anfühlte. Wir machten alle das Beste aus unserer Situation.
Es war nicht nur geografisch ein weiter Sprung, irgendwie sprangen wir auch in der Zeit zurück. Es war schon ein Unterschied zwischen dem Leben in einer modernen Metropole wie