Zum vorliegenden Band: «Mehrsprachigkeiten» erstreckt sich als Thema über alle oben genannten Kernthemen. Bilingualer Unterricht auf der Sekundarstufe II, Englisch als Berufssprache und Studiumssprache sowie die handelnden Individuen: Mehr als 80 Prozent der Lernenden und Lehrenden in Hochschulen und Sekundarstufe II sind mehrsprachig.
Herausgeberinnen sind Monique Honegger (Senior Teacher Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung), Tamara De Vito und Dagmar Bach (Dozentinnen, Zentrum für Berufs- und Erwachsenenbildung).
Die Reihe «Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung» regt Diskussionen über und Auseinandersetzungen mit aktuellen und praxisrelevanten hochschuldidaktischen und erwachsenenpädagogischen Fragen an. Sie stellt Dozierenden an Fachhochschulen sowie Verantwortlichen von Aus- und Weiterbildungen in Institutionen der Erwachsenenbildung und im vorliegenden Band explizit auch Lehrpersonen der Sekundarstufe II Reflexions- und Handlungsinstrumente zur Verfügung. Üblicherweise erscheint ein Band jährlich.
Neu sind folgende Bände geplant:
Band 10 (2020)
Mit allem rechnen: Improvisieren in der Bildungsarbeit
(Hrsg. von Geri Thomann und Monique Honegger)
Band 11 (2021)
Umgang mit Unerwartetem: Führen in Expertenorganisationen – Bildung und Gesundheit im Vergleich (Hrsg. von Geri Thomann u. a.)
Bereits publizierte Bände:
https://phzh.ch/de/Weiterbildung/Hochschuldidaktik-und-Erwachsenenbildung/publikationen-projekte/#
Bitte kontaktieren Sie uns für Rückmeldungen oder Ideen. Wir wünschen Ihnen viele Anregungen.
Das Editorialboard der Reihe:
Geri Thomann, Monique Honegger, Daniel Ammann, Dagmar Bach, Erik Haberzeth und Tobias Zimmermann
Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung PH Zürich
Dagmar Bach, Tamara De Vito und Monique Honegger
Einleitung – Erstsprachen, Zweitsprachen und Mehrsprachigkeiten
Wir sprechen in diesem Band von «Mehrsprachigkeiten» und gehen davon aus, dass sich die Sprachen eines Individuums als «Theil seines Selbst» (von Humboldt, siehe unten) manifestieren. Das zeigt sich etwa, wenn eine Schülerin halblaut in ihrer Erstsprache zählt, die nicht die Unterrichtssprache ist, oder ein Dozent nach einem Sprachwechsel plötzlich mit tieferer Stimme spricht. Oder: Ein Vater wechselt unwillkürlich von der Berufs- in die Familiensprache, während er im Büro mit seiner Tochter telefoniert. Jugendliche bearbeiten in der Schule eine Aufgabe als Gruppe und switchen dabei zwischen Albanisch und Schweizerdeutsch. Die Beispiele illustrieren, dass im Alltag Mehrsprachigkeiten gelebt werden, und nicht Einsprachigkeit. Darüber hinaus gibt es auch institutionell fixierte Mehrsprachigkeiten: An Hochschulen ist Englisch heute die übliche Wissenschaftssprache vieler Disziplinen. Im alltäglichen Berufsgespräch erscheint Englisch dann in anderer Form, als Umgangssprache, in der deutschen Schweiz kombiniert mit Hoch- und Schweizerdeutsch.
Der Begriff «Mehrsprachigkeiten» im Plural fokussiert die Komplexität von Sprachbiografien und Sprachgebrauchsrealitäten, auch hinsichtlich der didaktischen Überlegungen in diesem Buch. Das Zusammenspiel verschiedener Sprachen, Sprachvarietäten und Register gilt es als Lehrende und Dozierende zu berücksichtigen – in sämtlichen Lerngebieten, denn Sprachlernen findet immer statt, auch in Fächern und Disziplinen, die nicht explizit Sprachfächer sind (vgl. Gogolin/Lange 2010).
In den Beiträgen dieses Bandes werden in diesem Sinne folgende Fragen diskutiert:
Wie lässt sich Lernen denken und wie gestalten, wenn es immer auch Spracherwerb ist und wenn Spracherwerb – umgekehrt – immer Erwerb von Welt- und Kulturwissen ist?
Welche didaktische Haltung, welcher Umgang mit Sprache als Kommunikationsmittel ist dabei produktiv?
1 Mythen zu Mehrsprachigkeiten
Bevor wir den Umgang mit Sprache an Hochschulen und Schulen fokussieren, folgen zunächst einige Gedanken zu ausgewählten Mythen, die sich auf Sprache und Mehrsprachigkeiten beziehen:
Mythos «Dominanz der lokalen Sprache»: Nur wer Sprache und Bildungssprache einer bestimmten Region mindestens annähernd als Erstsprache verwenden kann, besitzt intakte Chancen auf eine persönliche und berufliche Entwicklung in dieser bestimmten räumlichen, sprachlichen und sozialen Umgebung (siehe Abschnitt 1.1).
Mythos «Sprachzerfall»: Sprachkompetenz und Sprachvarietäten schwinden von Generation zu Generation. Mehrsprachigkeit ist ein neueres Phänomen und geht mit dem Untergang von autochthoner Kultur einher (siehe Abschnitt 1.2).
Mythos «Sprachbegabung»: Sprach- (oder Mathematik-)Vermögen ist primär von der individuellen Begabung abhängig und nur mit grossen Mühen durch Bildung und Lernen beeinflussbar (siehe Abschnitt 1.3).
Diese Mythen wirken, unabhängig davon, ob sie empirisch stimmen oder nicht (zu Sprachideologien vgl. auch Busch 2017, S. 82–84). Wie und ob Individuen eine bestimmte Sprache verwenden, nicht verwenden oder nicht den Konventionen entsprechend verwenden, beeinflusst Lernende, Lehrende und Entscheidungsträger in der Bildungspolitik. Was in einem kulturellen Kontext über Sprachen gedacht wird, beeinflusst die Personen, die diese Sprachen verwenden, und hat Auswirkungen darauf, was ihnen geschieht (Afra Sturm in diesem Band, hier). Sich verständlich auszudrücken, widerspricht beispielsweise gewissen impliziten Wissenschaftskonventionen (vgl. Langer/Schulz von Thun/Tausch 2011, S. 159 f.). Dies zeigt sich in Texten, in formellen oder familiären Gesprächen und in der Interaktion von Personen verschiedener Herkunftssprachen. Stets markiert Sprachverwendung auch den sozialen und intellektuellen Status, weit über ihre rein kommunikative Funktion hinaus. Sprache fungiert als zentraler Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe oder gesellschaftlichen Ausschluss.
Die folgende selektive Diskussion der drei genannten Mythen bewegt sich mehr auf einer soziologischen und weniger auf sprachdidaktischer oder linguistischer Ebene, da Mythen eher gesellschaftliche Wirkungen und nicht empirisch fundierte Forschungsergebnisse erklären. In der Diskussion versuchen wir, subjektive Theorien über das Sprachenlernen, die mindestens teilweise auf diesen als Tatsachen getarnten Mythen beruhen, einer – auch didaktisch – weiterführenden Argumentation zugänglich zu machen.
1.1 Mythos «Dominanz der lokalen Sprache»
Die Erwartung, dass die lokale Sprache in ihrer bildungssprachlichen Form kompetent verwendet werden muss, um Bildungserfolg zu erreichen, ist in der Schweiz so dominant und im Bereich