»Darf ich auch?« Es war keine Frage, sondern ein Befehl von Patricia.
Emma beugte sich zu ihr und las leise vor:
Liebe Emma,
es gibt einen Satz, der nicht von mir ist, sondern von einem Yogi am Himalaya. Dank dir ist er mir wieder eingefallen. Ich will ihn unbedingt mit dir teilen. Allein der Gedanke daran hat mir geholfen, wieder freudig nach vorne zu sehen. Vielleicht geht es dir auch so.
Die Weisheit des Yogi lautet:
In Wahrheit ist es einfach Liebe.
Es klingt so einfach und ist doch so schwierig.
Ich hoffe, ich habe mich jetzt nicht aufgeführt wie ein Elefant im Porzellanladen und du findest diesen Satz aufdringlich. Vor langer Zeit einmal habe ich ihn gelesen und er hat mich beruhigt und gestärkt. Vielleicht hat er auf dich die gleiche Wirkung.
Ein Mann, der gerne ein Traummann wäre, aber mehr ein Alptraummann ist
12
Romantisch.« Patricia nahm einen weiteren Schluck ihres Matcha-Tees. Ein kleiner grüner Schaumbart blieb auf ihrer Oberlippe zurück.
»Das habe ich auch so geschrieben in meinem ersten Brief. Deine zukünftige Traumfrau, die allerdings derzeit eine Alptraumfrau ist.« Emma las den Brief immer wieder, weil sie den Wortlaut der Zeilen nicht glauben konnte. Wenn sie in der Nacht auch alle Funken von Verliebtheit in einen Unbekannten in sich erstickt hatte, so glommen sie nun wieder voll auf.
In Wahrheit ist es einfach Liebe.
Einfach Liebe.
»Ist es nicht sehr früh, wenn er jetzt schon von Liebe spricht?«, fragte Emma.
»Schätzchen, er schreibt nicht, dass er dich liebt. Er schreibt von der Kraft der Liebe, der Wahrheit und der Einfachheit.«
»Aber es klingt, als hätte er meine Briefe gelesen. Meine Briefe an Unbekannt. Wie?«
»Das kannst nur du wissen.«
Aber Emma wusste es nicht.
»Wer ist er?« Emma wackelte mit dem Umschlag vor Patricias Gesicht.
»Hast du wirklich niemandem von den Briefen erzählt?«
»Wie oft noch? Nie-man-dem. Außer mir weiß niemand, dass ich mich Alptraumfrau genannt habe und zukünftige Traumfrau. Genau wie er in seinem Brief.« Emma sah Patricia flehentlich an. »Wenn du etwas weißt, dann sag es. Bitte!«
»Hier geht es nicht um Wissen.«
»Sondern?«
»Um mehr.«
»Was soll das wieder heißen?«
»Ich habe von so einem Antwortbrief noch nie gehört. Das Universum, der Himmel, die Macht, die uns umgibt, sie senden uns Botschaften. Manche versteckt, manche offen. Aber schriftlich sind sie mir noch nie untergekommen.«
Es war Patricia anzuhören, dass sie es genau so meinte, wie sie es sagte.
»Was mache ich jetzt?«
»Nichts.«
»Wie bitte?«
»Du lebst.«
»Aber ich will wissen, wer den Brief geschickt hat. Welcher Mann schreibt so etwas? – In Wahrheit ist es einfach Liebe?«
»Wenn die Zeit reif ist, wirst du ihn treffen.«
»Und bis dahin?«
»Verwendest du viel Liebe für dich selbst. Du verdienst sie nämlich. Statt zu warten, dass dich jemand liebt, tu es einmal selbst. Es wird dir guttun.«
Emma spürte, wie die Wut in ihr aufwallte. Sie wollte wissen, wer der Briefschreiber war, und Patricia mit ihren seherischen Kräften wusste vielleicht schon mehr. Sie hätte Patricias Tasse packen und ihr das grüne Zeug ins Gesicht schütten können.
»Ich weiß, was du jetzt tun willst. Aber es bringt dir auch keine Klarheit«, sagte Patricia seelenruhig.
13
Emma machte im Kopf eine kleine Liste:
Ruhige Minuten an diesem Tag: null
Ruhig gesessen an diesem Tag: nullmal
Pulsschlag: gefühlte zweihundertmal in der Minute
Schweißausbrüche trotz des kühlen Windes: mindestens zehn Mal
Zum Briefschlitz nachsehen gegangen, ob ein weiterer Brief eingeworfen worden war: geflunkerte 99-mal, in Wirklichkeit wahrscheinlich dreihundertmal
Gutes Gefühl, weil das viele Laufen durch das Haus auch eine Art Fitness-Training ist: durchaus
An Eric gedacht: dauernd
Mich gefragt, ob er den Brief geschrieben hat: dauernd
Mich schrecklich gefühlt, weil ich eine Alptraumfrau bin und bleibe: ständig
Mich als blöd beschimpft, weil ich so viele Lügen erzählt habe: gefühlte unendlich viele Male
Mich in den Spiegel geschaut und hässlich gefunden: viermal, danach habe ich den Spiegel abgehängt und zur Wand gedreht.
Um sich zu beschäftigen und abzulenken, zog Emma die vertrockneten Äste aus den Glasvasen, warf sie weg und brach auf, um etwas anderes zu finden, das sie hineinstecken konnte und das lebendiger wirkte.
Als sie New Steine nach oben Richtung St. James’s Street ging, blieb sie auf einmal stehen und glaubte zu wissen, wer ihr da geschrieben hatte. Sie hatte eine Erklärung, wieso jemand den Brief gelesen hatte und sie als Traumfrau und sich als Alptraummann bezeichnete. Die Lösung war so einfach.
Nach ihrer Schwärmerei für Eric war Emma aber etwas aus dem Häuschen über den neuen Mann, der sich da für sie interessierte und ihr einen so wunderbaren Satz geschickt hatte.
Patricia hob auf keiner der beiden Nummern ab. Da Emma wusste, wo sie zu finden war, machte sie sich sofort auf den Weg.
14
Das ovale Holzschild an der Tür sagte: »Bitte Geduld und Vorfreude«.
Patricias Arbeitsplatz am Pier, weit draußen auf dem Steg, war ein hölzerner Planwagen. Drei Stufen führten hinauf zur Tür. Daneben war ein Schild angebracht, das Patricias Auftritte im TV beschrieb sowie einige Wahrsagungen, die sich als richtig erwiesen hatten.
Die Wagen der Achterbahn donnerten in der Nähe über die Schienen, ein paar junge Leute kreischten, als sie in einem Kanu einen Wasserfall hinunterrasten und nass wurden. Emma lief vor dem Wagen auf und ab, verließ den Platz aber nicht, damit sich niemand vordrängte.
Sie wartete und wartete. Nach 45 Minuten warf sie die Arme in die Luft. Wer war da bei Patricia drinnen, und was sagte sie ihm? Normalerweise waren ihre Termine doch im 15- oder 30-Minuten-Takt. Allerdings war jetzt auch Vorsaison, und vielleicht nahm sie sich da mehr Zeit.
Eine Stunde war vorbei, aber aus dem Wohnwagen war noch immer kein Lebenszeichen gedrungen.
»Hey, Emma!« Patricia war hinter Emma aufgetaucht, eine große Tüte Fish&Chips in der Hand. »Willst du?«
»Nein.«
»Was tust du hier? Lust auf Achterbahn?«