»Ich überlege …«, sagte Korab und erlebte einen Glücksfall, der viel zu ideal war, um real zu sein. Aus seiner rechten Hosentasche kam sein neuester Klingelton, das plätschrige Klatschen eines original ungarischen Wallerholzes, mit dem man laut Isonzo sogar die vorsichtigsten Welse aus ihren Unterwasserhöhlen locken konnte. Korab entschuldigte sich bei den Anwesenden, griff nach seinem Telefon und verließ die Jurte.
Im Freien marschierte er sofort Richtung Nordpol, bevor er sich mit seiner Detektivstimme meldete, die er deutlich rauer anlegte als seine Kunstvermittlerstimme. Er sprach seinen Namen sogar ein wenig unwillig aus, als hätte er einen Haufen anderer Fälle am Hals, die dringend nach einer Lösung verlangten.
»Guten Tag. Hier spricht Sarah Rabental«, erklärte ihm die Stimme einer vermutlich etwas älteren Frau. »Sind Sie der Detektiv aus der Zeitung?«
»Ja«, bestätigte Korab, »ich hab da ein kleines Inserat geschaltet.«
»Gut. Sehr gut. Ich habe nämlich ein dringendes Anliegen, Herr Detektiv. Meine Bekannte ist verschwunden. Jetzt brauche ich jemanden, der sie sucht.«
»Das ist sehr bedauerlich, aber da müssen Sie sich an die Polizei wenden«, versuchte Korab, die Affäre zu umschiffen. »Die hat ganz andere Möglichkeiten. Ich suche aus Prinzip keine Verschollenen. Verschollene waren entweder nur besoffen und liegen dann in irgendeiner Bar länger am Klo – und niemand will dafür etwas zahlen, wenn ich die heimbringe – oder sie sind tatsächlich verschollen und daher mit noch so viel Aufwand unauffindbar. Und für ergebnislose Recherchen zahlt auch niemand gern. Verschollene sind für einen Detektiv eine echt miese Mission.«
»Das verstehe ich schon«, antwortete Frau Rabental, »aber an die Polizei kann ich mich nicht wenden. Die soll meine Bekannte gar nicht finden.«
»Und warum?«, fragte Korab mit erhöhter Aufmerksamkeit.
»Weil sie unschuldig ist.«
»Woran?«
»Kommen Sie einfach zu mir, bitte«, forderte Frau Rabental, »dann erkläre ich Ihnen alles ausführlich.«
Korabs inneres Sparschwein machte ein paar heftige Grunzer. Seine letzte Fütterung lag ein gefühltes Jahrhundert zurück, irgendwann zu der Zeit, als Picasso sein erstes abstraktes Bild gemalt hatte.
»Falls ich zu Ihnen komme, Frau Rabental«, sagte Korab wenig enthusiastisch, »dann kostet dieser Besuch in jedem Fall einhundert Euro. Ohne Rechnung und bar auf die Hand und ohne neuerliche Aufforderung in genau dem Moment, wo ich bei Ihnen eintrete. Und unabhängig davon, was bei unserem Gespräch rauskommt. Nur wenn Sie damit einverstanden sind, schaue ich heute noch bei Ihnen vorbei.«
»Ich bin einverstanden«, sagte Frau Rabental, ohne zu zögern, »sehr sogar. Ich mag Menschen mit Prinzipien …«
Nachdem sie ihre Adresse durchgegeben hatte, legte Frau Rabental auf. Korabs Bewegungen zurück Richtung Jurte waren so zäh, als wäre der Auboden mit klebrigen, kurz vorgekauten Kaugummiklumpen gepflastert.
»Also …«, sagte Korab beim Eintreten, »es war echt nett mit euch, aber ich muss jetzt los. Ich hab einen neuen, extrem dringenden Auftrag … ja, und … also … genau, das Bild … was das betrifft, da rede ich heute noch mit unserem Archivar. Ohne den und seine Zustimmung geht gar nichts. Aber der ist ein Freund von mir, schwer in Ordnung, ein patentes, unkompliziertes Bürschchen …«
»Kann der auch das Maul halten?«, wollte der Krake wissen.
»Absolut«, bestätigte Korab.
Der Krake nickte nachdenklich, während Molly Müller gerade damit anfing, auch noch ihre rechte Brust zu bemalen. Mit einem Rundumnicken verabschiedete sich Korab von den Anwesenden.
»Und was ist mit Mampf?«, fragte Isonzo vorwurfsvoll. »Der Eintopf köchelt schon. Brachsen und Schleien werden uns freuen.«
»Heb mir was auf«, bat Korab, »ich komm irgendwann später wieder … aber jetzt muss ich wirklich los.«
Vor der Jurte atmete Korab tief durch. Hier war die Luft deutlich weniger mit Altlasten kontaminiert und frischer, trotz der omnipräsenten Bärlauchschwaden. Pro Kubikzentimeter schwirrten genug Sauerstoffatome herum, um Korabs Gedankenglut neu anzufachen. So viel stand fest: Frau Doktor Molly Müller war das unkomplizierteste weibliche Wesen, das ihm je begegnet war. Ihr Nacktsein war derart selbstverständlich gewesen, dass sie gar nicht unbekleidet gewirkt hatte. Im Gegenteil. In ihrer Gegenwart waren es eher die mit Gewand Behängten gewesen, die den Anschein erweckt hatten, als übertünchten sie mit Ihrem Bedeckungsfimmel irgendwelche gröberen Psychoprobleme. Aber was hatte Molly mit diesem ausgepressten Saft gemeint? In Isonzos Jurte gab es weder eine Presse noch irgendwelche Früchte.
Während er auauswärts schritt, spürte Korab, dass in dem Wort Molly ein konkreter Gegenstand enthalten war: der Lolly. Eine klebrig süße Tiefbohrschraube aus buntem Kringelzucker, die so weit durch Mund und Gurgel dringen konnte, bis man den eigenen Seelensee erreichte und an dessen Ende Gondwana, den Urkontinent. Dort stand er zusammen mit Molly, Hand in Hand, und sah voller Erstaunen, mit welchen Pflöcken, Ringen und Tätowierungen sie ihren restlichen Körper geschmückt hatte. Mit diesen Bildern im Kopf erreichte er den Rand der Au und stapfte hinüber in die Zivilisation. Ein besonders hybrider Linzer Stadtteil, die sogenannte Solar City, tauchte vor ihm auf und mit ihr die Ausläufer eines Straßenbahnnetzes, dessen Modernität ihm in diesem Moment so unglaubwürdig und trostlos erschien, als wäre er durch ein Wurmloch gefallen und in einer viel zu sauberen, unheimlich glatten, trostlosen und komplett unfruchtbaren Zukunft gelandet.
3
Ein grüner Teppich, gewoben aus unschuldigen Blättern und Blüten. Stärker als je zuvor sah Lotte das Bild in ihrer Erinnerung. Sie kauerte in ihrem Geheimversteck am Rande des Schulhofs. In der Geborgenheit hinter den Büschen war sie eine Fee mit übernatürlichen Kräften. Sie schloss die Augen, murmelte einen Zauberspruch und verwandelte ihre lautstark herumtollenden Mitschülerinnen in einen Vogelschwarm. Dann überlegte sie, wer im Schulhof bleiben durfte und wen sie nach Afrika schicken würde.
»Du unterschreibst das jetzt«, befahl eine herrische Stimme direkt auf der anderen Seite der grünen Wand, hinter der Lotte saß. Dorothea, durchfuhr es die unfreiwillige Lauscherin, während sie vor lauter Schreck noch tiefer in ihre Deckung sank. Dorothea war zwei Jahrgänge über ihr, aber mit Sicherheit eine der ersten, die sie ganz weit fortschicken würde. Die Silhouette der älteren Mitschülerin wirkte gespannt und unheilvoll, wie die Figur eines Boten, der eine üble Nachricht brachte.
»Aber warum? Er hat mir nichts getan«, widersetzte sich eine andere Mädchenstimme dem Befehl.
»Jetzt pass einmal gut auf, Klara Artner«, sagte Dorothea, jede Silbe straff betonend, »der Gruber muss weg. Er hat mir auf den Busen gegriffen. Ich hab gesagt, er soll aufhören, aber er hat nur dreckig gegrinst und mich weiter bedrängt. Wäre nicht zufällig jemand gekommen, dann hätte er mich vergewaltigt. Solange der Gruber an unserer Schule ist und hier weiter unterrichtet, kann das jeder von uns passieren. Also muss er weg. Und deswegen unterschreibst du das jetzt.«
»Aber das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Klara, »der Herr Gruber tut so was nicht. Er ist ein guter Lehrer. Er würde nie …«
»Halt endlich dein Maul«, unterbrach Dorothea den Einwand, »wer Volksschädlinge unterstützt, ist selber einer. Und wenn ich das melde, und das werde ich, dann kommst du auch weg. Zusammen mit deiner ganzen Familie. Möchtest du das?«
Das Gewicht dieser Frage erdrückte die Worte der Vernunft. Hinter der Hecke war es ruhig geworden. Lotte betete für Klara, wünschte ihr Widerstandskraft und rief sich ganz bestimmte Bilder in Erinnerung,